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Aus: Migration, Beilage der jW vom 17.05.2023
Flucht und Migration

Menschen als Spielbälle

Erfolgreiche Schlepper: Die Profiteure und die Verlierer der Flüchtlingspolitik
Von Annuschka Eckhardt
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Bedel Castillo möchte lieber »­Guide« genannt werden als Schlepper. Mit dem Zeigefinger malt er Kringel in den weißen Sand. »Alleine ist die Wanderung durch den Darién-Dschungel für die Migranten zu gefährlich, sie kennen weder den Weg noch wissen sie, wo die Migrationspolizei nach ihnen sucht oder die bewaffneten Gruppierungen langlaufen. Sie brauchen uns Kojoten«, sagt Castillo 2020 an der kolumbianisch-panamaischen Grenze. Der junge Mann sitzt während des Gesprächs zwischen Kokospalmen am karibischen Strand.

Der Darién-Gap ist eine Lücke in der Panamericana, der Straße, die von Feuerland bis nach Alaska reicht. Dort führt die Strecke unbefestigt durch den Regenwald, über steile Felsformationen und durch Sumpfgebiete. Die Tour dauert sechs bis 15 Tage. Die panamaische Grenzbehörde registrierte Personen aus mehr als 50 Herkunftsländern. Besonders viele kommen aus Haiti, Kamerun, Indien, Bangladesch, dem Kongo, Sri Lanka, Kuba, Nepal, Venezuela, Eritrea, Pakistan und dem Jemen.

Drei Jahre später: Noch nie haben sich so viele Menschen auf den Weg durch den Darién-Gap in Richtung USA gemacht wie in den ersten Monaten dieses Jahres. Am 5. Januar hatten der US-amerikanische Präsident Joseph Biden und sein mexikanischer Amtskollege Andrés Manuel López Obrador verkündet, dass bis zu 30.000 Venezolaner, Kubaner, Haitianer und Menschen aus Nicaragua monatlich Asylanträge für die Einreise in die USA stellen dürfen – dafür werden jeden Monat 30.000 dort nicht registrierte Menschen, die teilweise schon Jahre in den USA leben, nach Mexiko abgeschoben. Diese Ankündigung bewog Zehntausende Menschen dazu, sich in Richtung USA zu begeben.

Transporteure, Beförderer, Guides, Kojoten – sie werden als kriminelle und unmenschlich handelnde »Schlepper« abgewertet und bekämpft. Joseph Biden, Recep Tayyip Erdogan, Emmanuel Macron, die EU & Co. sind die eigentlichen Schlepper. Sie benutzen die Flüchtenden und Migrierenden als Spielfiguren, Druckmittel, Ablenkungsmanöver, zur Erpressung, als Verhandlungsmasse und emotional aufgeladenes Wahlkampfthema. Sie verbreiten falsche Hoffnungen; ein Strohhalm reicht, damit sich Zehntausende auf den gefährlichen Weg machen. Die Menschen, die Flucht und Migration unter Einsatz ihres Lebens möglich machen – auf dem Land oder Seeweg –, sind einfache Dienstleister in einem informellen Sektor.

Staaten, die aufgrund ihrer geographischen Lage als Transitländer herhalten müssen, haben die doppelte Verantwortung, die Migrierenden auf Wunsch der Zielländer sowohl an ihrer Weiterreise zu hindern, als auch nach UN-Standards zu betreuen. Die EU setzt auf Abschottung in der Wüste Nigers, zur Bekämpfung der »Menschenschmuggler«. Durch die Verschiebung der Route verdursten viele Menschen undokumentiert in der Wüste. Weil Transitländer wie Mali und Burkina Faso sich von der ausländischen Militärpräsenz befreien und Kräfte an Stärke gewonnen haben, die in Russland eine Alternative und einen akzeptablen Verbündeten sehen, sucht die EU nach neuen »Partnern«, um ihre Interessen fernab der Heimat durchzusetzen. Mit Erfolg: 60 Bundeswehrsoldaten sollen im Niger eingesetzt werden.

Diejenigen, die von ihrer »Flüchtlingspolitik« profitieren, setzen auf eine Spaltung in Geber- und Nehmerländer und Geber- und Nehmermenschen. Die »Willkommenskultur« als höchste Stufe der altruistischen Mittelschicht, die wenig von den Ankommenden, Beschäftigung Suchenden zu befürchten hat. Seit dem Krieg in der Ukraine hat sich die Spaltung zwischen willkommenen und unwillkommenen Geflüchteten vertieft.

Zurück zum Darién-Gap: Im Mai meldete das kolumbianische Municipio Acandí, in dem »Guide« Castillo lebt: »Es gibt gewöhnliche Menschen, die mitten im Dschungel ihren Lebensunterhalt erwerben und dazu beitragen, den Migranten den Weg erträglicher zu machen, sie sind das letzte Glied in der Kette. Die größte Verantwortung tragen sie, wenn sie ein Kind auf dem Rücken tragen müssen in der Überzeugung, dieses kleine Leben zum vereinbarten Ort zu bringen.« Acandí gehört zum ärmsten Bundesstaat in Kolumbien. Das Municipio verteilt Wasser und Essen an bestimmten Orten im Dschungel. Weder das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR noch die Mirgationsagentur IOM oder der kolumbianische Staat haben das in den vergangenen Jahren versucht, geplant oder umgesetzt.

Die Situation im Darién-Dschungel ist nur ein Beispiel. Die Texte in dieser Beilage dokumentieren weitere Episoden einer Politik, die Menschen zu Spielbällen macht.

Die Bilder zu dieser Beilage zeigen Eindrücke des Mediziners Victor Paes, der jeden Monat mit seinem Team Asylsuchende in Calais in Nordfrankreich versorgt. Die Mobile Herbal Clinic Calais, die seit 2019 mehr als 10.000 Patienten behandelt hat, finanziert sich aus Spenden. Menschen aus der ganzen Welt sind über die nordfranzösische Küste verstreut und versuchen, die Grenze nach Großbritannien zu überqueren. Nach britischem Recht ist die illegale Einreise für fast alle Menschen, die Asyl beantragen wollen, erforderlich. Das bedeutet, dass die Menschen ihr Leben riskieren, um mit Booten den Ärmelkanal zu überqueren oder in und unter Lastwagen zu klettern. Der Ärmelkanal ist heute eine der tödlichsten Überfahrten der Welt. Indes versucht die britische Regierung ein neues Asylgesetz durchzusetzen, das erlaubt, irregulär Eingereiste einen Monat internieren und anschließend in ihre Heimat oder in vermeintlich sichere »Drittstaaten«, wie Ruanda deportieren zu können.

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