Globale Konterrevolution
Von Daniel BratanovicIn den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts mussten die Zeitgenossen durchaus den Eindruck haben, dass sich nicht der Kapitalismus, sondern der Sozialismus in der Offensive befindet. Genossen hierzulande berichten, wie sie auf Weltkarten, die in den Parteibüros hingen, alle jene Länder mit roten Fähnchen markierten, die sich zu einem sozialistischen Entwicklungsweg bekannten. Es wurden ihrer immer mehr.
Ein erheblicher Teil der nachkolonialen Staaten Afrikas, viele Länder des arabischen Raums und nicht wenige Nationen Asiens schlugen diese Richtung ein. In Kuba hatten 1959 Guerilleros mit Fidel Castro und Che Guevara an der Spitze den mit Washington verbündeten Diktator Fulgencio Batista verjagt und alsbald begonnen, die Niederlassungen von US-amerikanischen Unternehmen zu verstaatlichen. Nachdem 1970 Salvador Allende, der Kandidat des Volksfrontbündnisses Unidad Popular, zum Präsidenten gewählt worden war, stellte die neue Regierung in Chile ebenfalls die Eigentumsfrage, nationalisierte die Kupferminen und enteignete chilenische Unternehmen in der Hand von US-Konzernen.
Die Beseitigung der sozialistischen Regierung in Chile am 11. September 1973 und der Aufbau eines faschistischen Terrorapparats – übrigens mit Unterstützung alter Nazis, die nach 1945 entkommen waren –, der Oppositionelle gnadenlos jagte und ermordete, waren ein schwerer Schock für das Lager der Fortschrittsleute, aber in der zeitgenössischen Wahrnehmung noch lange nicht das Ende. Kein Jahr später machten progressive Offiziere unter dem Jubel der Massen Schluss mit der Salazar-Diktatur. Portugals Nelkenrevolution im April 1974 entließ dann rasch Guinea-Bissau, Angola und Mosambik aus der kolonialen Beherrschung. Die dortigen antikolonialen Befreiungsbewegungen optierten für eine sozialistische Orientierung. 1978 eroberte die Demokratische Volkspartei in Afghanistan die Macht, 1979 stürzte in Nicaragua die Sandinistische Befreiungsfront den Diktator Somoza, im gleichen Jahr übernahm eine nationalrevolutionäre Partei die Macht im karibischen Inselstaat Grenada.
Noch bis zum Ende des Jahrzehnts konnten die Genossen also weitere Fähnchen auf ihre Weltkarten stecken und schienen begründeten Anlass zu den schönsten Hoffnungen auf einen Planeten ohne Ausbeutung zu haben. Was sie damals kaum wissen konnten: Die Welle revolutionärer Erschütterungen brach genau zu jener Zeit. Der real existierende Sozialismus war auf eine abschüssige Bahn geraten, seine Krise jedoch anfangs, zu Beginn der 70er Jahre, lediglich latent und daher nur schwer erkennbar.
Der Putsch in Chile und seine Folgen allerdings erweisen sich in der Rückschau von einem halben Jahrhundert als sehr viel bedeutungsschwerer denn als bloßer Dämpfer für eine Welt auf dem Weg zum Sozialismus. Das Jahr 1973 markierte mit der Zerstörung des 1944 geschaffenen Weltwährungssystems, der Durchsetzung marktradikaler Strategien bzw. einer Zurückdrängung des staatlichen Einflusses auf die Wirtschaft einen epochalen Wendepunkt, eine neue Periode in der Geschichte des Kapitalismus wurde eingeleitet. Vor dem Hintergrund der damals gerade in Gang gesetzten »dritten industriellen Revolution« in der Informationstechnologie hob ein Zeitalter an, das bisweilen – ungenau genug – neoliberale Globalisierung genannt wird.
Was auch immer sonst damit bezeichnet ist, diese Wende bedeutete eine Zurückdrängung der Macht der Lohnabhängigen in der gesamten kapitalistischen Welt, und in dieses Zeitalter fällt auch der Untergang der sozialistischen Staaten. Dieser Umschlag im Weltmaßstab verdichtet sich zu einem Tag an einem Ort: dem 11. September 1973 in Santiago. Das Terrorregime der Militärjunta in Chile schuf die Voraussetzung, gleichsam unter Laborbedingungen neoliberale Wirtschaftskonzepte zu probieren, die bald auch andernorts Anwendung finden sollten. Insofern steht dieser Tag nicht nur für das gewaltsame Ende des Versuchs, in Chile eine Ökonomie der Gleichheit und Gerechtigkeit aufzubauen, sondern auch für eine globale Konterrevolution.
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