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Aus: Ausgabe vom 29.07.2023, Seite 16 / Aktion
50 Jahre Putsch in Chile

»Die USA duldeten kein zweites Kuba«

Nach dem faschistischen Putsch in Chile half die DDR, verfolgte Sozialisten vor der Junta zu retten. Gespräch mit Frank Schumann
Von Leonard Mielke
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Ankunft von Luis Corvalán in Berlin/Hauptstadt der DDR, 28.1.1977: Jubelnd begrüßen 50.000 Bürger den Generalsekretär der KP Chiles

Es ist bekannt, dass chilenische Sozialisten und Antifaschisten nach dem Putsch am 11. September 1973 die Flucht vor der Pinochet-Junta in die DDR gelang. Wie lief dies ab?

Darüber müsste man nicht nur ein ganzes Buch schreiben, sonders es gibt dieses bereits (»Flucht vor der Junta. Die DDR und der 11. September«, Edition Ost 2005). Von den Aktivisten, die dort berichteten, lebt nach meiner Kenntnis nur noch Rudolf Herz, der im September 1973 als Offizier im besonderen Einsatz (OibE) mit dem Decknamen »Benz« nach Santiago de Chile geschickt worden war, um beispielsweise die Ausschleusung von Carlos Altamirano über die Anden nach Argentinien zu organisieren. Altamirano war der Generalsekretär der Sozialistischen Partei und Freund Allendes.

Die Rettung von Funktionären der Unidad Popular und anderer verfolgter Chilenen war in Berlin gemeinsam von Mitarbeitern der Abteilung Internationale Verbindungen im ZK der SED und der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS (HV A) geplant und vorbereitet worden. Mit präparierten Autos brachte man sie außer Landes. Die Details wird Rudi Herz bei der Veranstaltung Ende August in der Maigalerie erzählen. Und man kann sie auch nachlesen in seinen Erinnerungen, die demnächst unter dem Titel »Ich war OibE Benz in Chile« in der Edition Ost erscheinen werden.

Salvador Allendes Partei Unidad Popular, UP, hatte die chilenische Wahl 1970 mit großer Mehrheit gewonnen. Wie war das Verhältnis zwischen der DDR und Chile vor dem faschistischen Putsch?

Es bestanden bereits Kontakte vor dem Sieg der UP, die aber nach Herstellung der diplomatischen Beziehungen intensiviert wurden. Auf Einladung der chilenischen Regierung bereiste beispielsweise eine DDR-Studiendelegation sieben Monate das Land. Die Fachleute untersuchten die ökonomische Basis, Landwirtschaft, Gesundheits- und Bildungswesen, Wissenschaft usw. Die Einladung zur Bestandsaufnahme war deshalb an die DDR ergangen, weil sie sich in Europa bereits über zwanzig Jahre gegenüber allen imperialistischen Angriffen behauptet hatte und sich demokratisch und erfolgreich entwickelte.

Wie haben Sie damals die internationale Solidarität der DDR mit Chile und anderen Ländern erlebt?

Sehr intensiv. Das begann mit Spenden der Gewerkschaftsmitglieder, ging über Postkartenaktionen der Jungen Welt der FDJ bis hin zu Solidaritätsschichten in den Betrieben. Während der Weltfestspiele etwa wurden in Rostock die DDR-Frachter »J. G. Fichte« und »Radeberg« mit Solidaritätsgütern verabschiedet. Ich selbst war bei der Volksmarine, als die Faschisten in Chile putschten, und davon überzeugt, dass jetzt Freiwillige aus der ganzen Welt zur Verteidigung der demokratischen Republik Chile nach Südamerika eilen würden, um wie damals 1936 in Spanien Internationale Brigaden zu bilden. Ich ging zum Parteisekretär auf unserem Schiff, dem Minensuch- und -räumschiff (MSR) »Wittstock«, und erklärte, dass ich nach Chile gehen möchte, um dort gegen die Faschisten zu kämpfen. Der Genosse Oberleutnant lächelte mich an und sagte: Du willst dich doch nur vorm Dienst an Bord drücken. Dabei ging meine dreijährige Dienstzeit im folgenden Monat zu Ende. Also landete ich nicht in Chile, sondern Ende Oktober 1973 als Volontär bei der Jungen Welt und erfuhr: Auch mein Arbeitsplatz war ein Kampfplatz für den Frieden.

Sehen Sie die heutige Erinnerungskultur an den Putsch in Chile, 50 Jahre danach, als angemessen an?

Nein, natürlich nicht – sieht man mal davon ab, was die jW veranstaltet. Es ist doch klar, dass die globale kapitalistische Welt nicht dran erinnert werden möchte, dass sie eine legale, demokratisch legitimierte Ordnung in Blut badete, indem sie diese gewaltsam stürzte. Es ging erstens um Rohstoffe – Chile war der zweitgrößte Kupferproduzent der Welt –, also um ökonomische Interessen. Und es ging zweitens um politische Interessen: Die USA duldeten in ihrem Hinterhof kein zweites Kuba. Interview:

Podiumsgespräch »Flucht vor der Junta: DDR-Rettungsaktionen von Antifaschistinnen und Antifaschisten aus Chile«. Donnerstag, 24. August 2023, 19 Uhr, in der jW-Maigalerie und im Stream auf jungewelt.de

Der Autor Frank Schumann

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (29. Juli 2023 um 18:55 Uhr)
    Fakt ist, wie der Artikel andeutet, dass die USA kein zweites Kuba in ihrem Hinterhof tolerieren konnten. Um dies zu vermeiden, musste die USA sich einen faschistischen Putsch leisten, den wir damals, aus unserer Sicht, auf der anderen Seite der Welt miterlebten. Erlaube mir, aus eigener Erfahrung über die Bestrebungen der DDR zur Weltpolitik zu sprechen. Ich war jahrelang in den Siebziger Jahren bei der ungarischen Handelsvertretung beschäftigt und genoss sogar Diplomatenstatus, da die DDR damals nur noch von wenigen Staaten anerkannt wurde. Damit möchte ich lediglich nur darauf hinweisen, wie groß der Drang der DDR war, auf die Weltbühne zu gelangen, um sich dort zu positionieren. Die DDR mischte sich in jede Angelegenheit der Weltpolitik ein. Es mag zwar schön gewesen sein, sich mit chilenischen Flüchtlingen zu schmücken, aber es gab auch eine Kehrseite. Die DDR hat sich mit der Öffnung zur Weltpolitik wirtschaftlich mehr als übernommen. Die Hilfe für die Chilenen war nur ein kleiner Schritt, jedoch zeichnete sich ein klarer Trend ab, der volkswirtschaftlich immer belastender wurde. Neben der Hilfe für die Chilenen folgten 1975 die Angola-Hilfe und danach die politische Anerkennung der DDR durch 123 Staaten und die Eröffnung von Botschaften. Damit möchte ich verdeutlichen, dass die DDR, ein winziges Land, durch ihr Engagement in der Weltpolitik sich wirtschaftlich weit übernommen hatte, was letztendlich zum Untergang führte, weil es den Wohlstand der eigenen Bevölkerung negativ beeinträchtigte. Ähnlich erging es auch der Sowjetunion. Es ist wirklich, glaubt mir, schiefgelaufen!
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marian R. (31. Juli 2023 um 21:19 Uhr)
      Die »schmückenden Flüchlinge« wurden nicht ermordet … und jeder DDR-Traktor in Angola zeigt, wer wirklich internationalistisch war! Der Drang nach internationaler Anerkennung war ein Stück weit auch Lebensversicherung für die DDR, den Adenauer & Co. hätten die »Zone« nur zu gerne im Handstreich genommen. Wir alle wissen jetzt – also hinterher – dass und welche ökonomischen Probleme usw. gab. Klare Analyse und schonungslose Kritik an der DDR-Politik ist mehr als angebracht, aber nur, wenn man nicht vergisst, wo Faschisten verurteilt, wo Antifaschisten als Neulehrer arbeiteten, wo – mit Hilfe der UdSSR – Großgrundbesitz und Rüstungsgewinnler enteignet wurden. Denn das (!) ist der entscheidende Unterschied zur BRD!
      • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (1. August 2023 um 14:57 Uhr)
        Ohne Zweifel haben die DDR Traktoren Angola genutzt, aber die DDR nicht, weil sie u.a. für ihre großartige internationale »Geschenke« unterging. Warum und wie so dachte die DDR Angola helfen zu müssen? Angola besteht noch immer, die DDR gibt es nicht mehr! Wer hat die DDR bei ihrem Untergang geholfen? Schließlich ist der entscheidende Unterschied zur BRD, dass die DDR nicht mehr existiert und »komischerweise« in die BRD eintrat!
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (31. Juli 2023 um 14:37 Uhr)
      Eine interessante Sicht der Dinge! Hätten wir andere in ihrer Not alleingelassen, könnte es unseren Staat noch geben. Fürwahr ein echt christlich-humanistischer Denkanstoß und Ausdruck wahrer sozialistischer Gesinnung.
      • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (31. Juli 2023 um 16:44 Uhr)
        Welche Vorstellungen hatten einige ideologisch Verblendete? Sie meinten, dass sie mit einer Fläche von hundertsiebentausend Quadratkilometern und siebzehn Millionen Einwohnern die Welt retten könnten, obwohl ihr eigenes Land bereits in den siebziger Jahren einige Schwächen mehr als andeutete. Sogar mussten sie die Standards der TGL teilweise senken, und das Land blieb eindeutig der BRD gegenüber immer mehr zurück. Dennoch wollte das Politbüro die Weltbühne erobern und daraus Nutzen ziehen. Ein späteres, aber treffendes Zitat von Peter Scholl-Latour lautet: »Wer halb Kalkutta aufnimmt, hilft nicht etwa Kalkutta, sondern wird selbst zu Kalkutta.« Genau das geschah! Die DDR ist verschwunden und wird nie wiederkehren. (Ich behaupte nicht, dass die DDR allein durch das, was ich beschrieben habe, untergegangen ist, aber dies trug dazu bei.) Ihre Bewertung meiner zugegebenermaßen spitzen Formulierungen ist auch nicht ganz zutreffend: »Wahrlich ein echter christlich-humanistischer Denkanstoß und Ausdruck wahrer sozialistischer Gesinnung«, weil jeder sich nach seinen Möglichkeiten engagieren sollte und sich nicht von ideologischem Geschwätz leiten lassen sollte. Die DDR hatte weder aufgrund ihrer Größe noch ihrer Möglichkeiten und Leistungsfähigkeit einen Platz auf der Weltbühne.

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