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Aus: Literatur (Frankfurter Buchmesse), Beilage der jW vom 18.10.2023
Belletristik

Der Sohn und das Nichts

Die Sprache des Traumas: Deniz Utlus Roman »Vaters Meer« ist die Geschichte einer Vatersuche
Von Kerstin Cornils
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Die Abbildungen dieser Beilage stammen aus der Graphic Novel »Nekropolis« von Jurij Devetak nach Boris Pahor (Schaltzeit-Verlag, 2023, 172 Seiten, 25 Euro). Sie erscheinen mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Lesen Sie auch eine Rezension des Bandes unter dem Titel »Vielleicht hätte ich ihn retten können«

Ein gleißender Tag an der türkischen Südküste, wie er im Urlaubskatalog steht. In der Ferne prangt eine malerische Burg aus dem Mittelalter, die Kızkalesi. In einem von Ziegenhaar zusammengehaltenen Zelt bietet ein turkmenischer Bauer Wassermelonen feil. Eine Familie genießt seltene gemeinsame Tage am Meer. Die Arbeitsmigration hat die Gruppe in zwei Teile gespalten: Ankara trifft auf Hannovers Lister Meile. Vor ein paar Tagen erst ist Senems Ehemann Zeki eingetroffen, nun ist die Familie endlich vollzählig. Yunus, der 13jährige Sohn von Senem und Zeki, trifft in einer heißen Straße des kleinen Ferienortes auf seinen Vater. Vielleicht wollen sie heute baden gehen, vielleicht Sandburgen bauen. Vater und Sohn betreten das Zelt mit Wassermelonen, um sich gegen die Hitze zu wappnen. Doch dann trifft Yunus’ Vater beim Aussuchen der kleinen Erfrischung aus heiterem Himmel der Schlag. Er, ein »Berg von Mann«, stürzt auf seinen kleinen Sohn, der ihn unmöglich halten kann. Mit dem Fall des Vaters wird die Welt, die gewesen ist, mit einem Schlag ausradiert.

Eine rasch schraffierte Anordnung eines Grauens, das in den autobiographisch grundierten Roman »Vaters Meer« des 1983 in Hannover geborenen Deniz Utlu wie ein Magnet eingesenkt ist. Erzählt wird von der Kindheit und Jugend von Yunus, der als Sohn türkischstämmiger Migranten in Hannover zwischen Raschplatztristesse und Stadtwald­idyll aufwächst. Doch der inzwischen erwachsene Yunus, der längst in Berlin lebt, blickt nicht in ordentlicher Chronologie auf die kleinen und großen Ereignisse seiner frühen Jahre zurück. Vielmehr verknoten sich seine Erzählstränge immer wieder mit Erinnerungen, die jenen fatalen südtürkischen Sommertag beschwören, an dem Yunus seinen Vater als Ratgeber verlor. Es ist eine Sprache des Traumas: An sich bedeutungslose Objekte wie die Wassermelonen aus Kızkalesi und das Zelt mit dem Ziegenhaar irrlichtern so häufig durch den Text, als könnten sie den Vater ins Leben zurückrufen. Flashbacks und beschwörende Wiederholungen strukturieren die Erinnerungsarbeit, aber auch eine fast kriminalistische Analyse vergilbter Familienfotos. Wer ist der Vater wirklich gewesen? Verstreute Dokumente von Behörden und Krankenhäusern übersetzen das Schicksal der kleinen Familie, von dem Yunus so poetisch und melancholisch zu berichten weiß, in eine Sprache der Kälte.

Immer deutlicher schält sich heraus, dass Yunus’ Suche nach seinem Vater von tiefen Schuldgefühlen begleitet ist. Nachdem Zeki im Zelt mit den Melonen zusammengebrochen war, hatte man ihn ins Krankenhaus eingeliefert, wo er schon bald aus dem Koma erwachte und sich gegen den Willen der Ärzteschaft selbst entließ. Für einen einzigen Tag gewinnt er seine Sprache wieder und erteilt gutgemeinte Ratschläge, die sein Sohn zornig abschmettert. Der Vater erleidet einen weiteren Schlaganfall. Fortan kann Zeki keinen Muskel mehr rühren und vermag bis an sein Lebensende nur noch durch Auf- und Zuschlagen der Augenlider zu kommunizieren. Senem bringt sich an den Rand des Ruins, indem sie ihren kranken Mann nach Hannover überführen lässt. Doch damit nicht genug: Nahezu für eine komplette Dekade pflegt die Biologin mit dem nie angetretenen Yale-Stipendium zu Hause ihren bewegungsunfähigen und sprachlosen Mann. Sie sorgt auch dafür, dass ihr Sohn nach Herzenslust »Party machen« und seine Jugend genießen kann. So gut es geht jedenfalls.

Doch so gut geht es nicht. Obwohl Yunus als Jugendlicher lieber die Eisdisco als seinen sprachlosen Vater besucht, kann er sich dem Schmerz nicht dauerhaft entziehen. Mit seinen türkischen Wurzeln ist es in Deutschland ohnehin schwer, im Tischtennisklub nicht ignoriert zu werden und vor der Haustür keine Prügel zu beziehen. Zudem fehlt Yunus gleichsam das Hinterland, das in vielen Familien ohne Migrationsgeschichte selbstverständlich ist. Bis auf seinen kranken Vater und seine Mutter, deren Abschluss in Deutschland nie anerkannt wird, hat er in Nordeuropa keine familiären Bindungen, keine naheliegenden Rollenmodelle. Seine kurdische Großmutter hat er nur ein einziges Mal gesehen, ohne sich mit der arabisch sprechenden Frau unterhalten zu können. Selbst die Beerdigungszeremonie in einer hannoverschen Moschee, die der Vater zu Lebzeiten nie besucht hat, mutet im Gewimmel unbekannter Gläubiger einsam an. Yunus’ Urteil über seine Jugend ist bitter: »Ich wurde unsichtbar unter den Menschen. Meistens war da Musik, und ich setzte Ohrstöpsel ein, weil ich seit dem Hörsturz keinen Lärm ertrug. (…) Mein Vater hatte zu unterhalten gewusst, unvorstellbar: er in einer Ecke auf einer Party, ein Schatten seiner selbst. (…). Ich, missraten. Sohn des Nichts und nicht des Seins.« Es trösten Musik und Bücher, von Goethe über Marx bis Metallica und Yaşar Kemal. Und Mädchen. Sie verströmen ein warmes Licht, glühwürmchengleich schweben sie aber nur selten durch den Text.

Viele Passagen des Romans erkunden eine im Parlamentarismus wurzelnde Türkei, ein Land mithin, das heute verschwunden ist. Ins Sommerparadies Kızkalesi und nach Ankara führt die Reise, wo die Mutter einst ein Labor leitete und unter ihren dominanten Brüdern litt, aber auch nach Istanbul und Mardin, eine multikulturelle Stadt im kurdischen Siedlungsgebiet Mesopotamiens, in der beide Eltern geboren sind. Senem und Zeki lernen sich 1980 in der Zeit des dritten Militärputsches kennen, während Panzer durch die Straßen rollen. Das friedliche Hannover mit der grünen Eilenriede sei »sein Refugium«, schwärmt Zeki, der Senem mit allen Mitteln nach Deutschland locken möchte. Doch selbst er bringt es nicht fertig zu unterschlagen, dass seine Heimatstadt Mardin auf eine 5.000jährige Kultur zurückblickt, während Hannover nahezu vollständig zerstört wurde und gerade erst 700 geworden ist: Ein Zwerg mit Bahlsen-Keks neben einem kulturellen Riesen. Utlu hat ein anrührendes Buch über drei Menschen in einem grauen Nachkriegsbau hinter dem hannoverschen Bahnhof geschrieben. In das Grau der Oststadt mischt sich zum Glück immer wieder das Grün der Eilenriede. Dort im Stadtwald gelingt es Yunus eines Tages sogar, seinen Vater wiederzufinden: »Zwischen den Blättern ist nichts. Aber dieses Nichts hat einen einmaligen Umriss. Wir waren die Blätter, mein Vater war das Nichts. Die meisten sehen nur die Blätter und nicht die Zwischenräume.«

Deniz Utlu: Vaters Meer. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2023, 382 Seiten, 25 Euro

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