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Aus: Behindertenpolitik, Beilage der jW vom 10.04.2024
Beilage Behindertenpolitik

Es bleibt viel zu tun

Ideale sind gut, bringen Menschen mit Behinderungen aber wenig. Anerkennung und gleichberechtigte Teilhabe sind das Ziel
Von Ina Sembdner
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»Warum stehen jetzt hier alle so bescheuert und tränenandächtig herum? Das ist doch ein Circus«

Rund zehn Millionen Menschen leben mit einer Behinderung in Deutschland – knapp acht Millionen davon mit einer schweren. Seit 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonvention hierzulande verbindlich in Kraft, von ihrer Erfüllung ist die Bundesrepublik jedoch nach wie vor weit entfernt. Gefordert wird darin etwa die Einhaltung der Prinzipien der Nichtdiskriminierung, der Chancengleichheit, der Selbstbestimmung und Inklusion; Verpflichtungen zu Partizipation, Bewusstseinsbildung und Zugänglichkeit sowie die Achtung individueller Rechte im politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich. Die Texte der vorliegenden Beilage streifen nur einige dieser Bereiche – mit einer klaren Tendenz. Der Weg ist weit für eine reelle gleichberechtigte Teilhabe in unserer Gesellschaft.

Wie Inklusion im Kulturbereich gelingen kann, zeigt die Bilderstrecke: Akrobaten, Seiltänzerinnen, Clowns und Pantomimen verwandeln die ökologisch verwüstete Erde im Haus der Berliner Festspiele in einen fliegenden Zirkus. »aerocircus – eine circensische karnevaleske mit planwagen entgegen aller linearitäten« heißt das im Dezember aufgeführte Stück des österreichischen Dramatikers Thomas Köck. Das inklusive Theater spielt seit 1991 gegen die »Norm«.

In eine andere Richtung weisen die Entwicklungen im Reproduktionsbereich. Claudia Wrobel beschreibt, wie das »Recht auf Nichtwissen« kontinuierlich ausgehebelt wird und Kinder mit Trisomien anhand der Vorbestimmung mit Hilfe von Pränataltests auf Kassenleistung immer seltener das Licht der Welt erblicken. Für die schon groß gewordenen, die ihren eigenen Unterhalt auf dem ersten Arbeitsmarkt verdienen wollen, heißt es dagegen: »Beschäftigungsquote stagniert«, wie Gudrun Giese in ihrem Text ausführt. Dabei verzichten Unternehmen auf gut qualifiziertes Personal, und gehandicappte Menschen nehmen wiederum Jobs an, für die sie überqualifiziert sind.

Ganz anders sieht es im Bereich der sogenannten Behindertenwerkstätten aus. Für »69 Cent die Stunde« werden Betroffene dort für einen Hungerlohn ausgebeutet. Und obwohl diese Tatsache seit Jahren bekannt ist, laufen die rund 3.000 Werkstätten in der Bundesrepublik weiter wie geschmiert auf Kosten der etwa 300.000 Beschäftigten. Annuschka Eckhardt hat sich das System genauer angeschaut. Auch Chris Lily Kiermeier, durch eine Motoneuronenerkrankung eingeschränkt, hat in einer solchen Werkstatt gearbeitet und es hat sie fast zerstört. Sie widmet sich nun als Aktivistin und Autorin dem Tabu Sexualität und Behinderung und muss im Interview feststellen: »Dinge bleiben oftmals verwehrt.« Dilar Kisikyol boxt lieber, trainiert Schlagtechniken: In ihrem Kurs zeigt sie erkrankten Frauen den »Punch mit Parkinson«. Die Profiboxweltmeisterin im Leichtgewicht hat ihr Projekt seit zweieinhalb Jahren beim Hamburger Boxverband. Sie vermittelt ihren Teilnehmerinnen Lebenshilfen, ganz praktisch: Mut und Selbstvertrauen, berichtet Oliver Rast.

Besonders schwer haben es jene, deren Behinderung nicht sichtbar ist: psychische Erkrankungen, ein »Seelischer Ausnahmezustand«, wie Kim Nowak in ihrem Text schreibt. Gefordert wird Aufklärung, Abbau von Stigmata und ein Ende der Diskriminierung – nicht selten landen Betroffene jedoch zwangsweise in einer psychiatrischen Klinik. Demgegenüber wird mit Inklusion oft ein ideales Bild für eine Gesellschaft gezeichnet, das Suitbert Cechura genauer unter die Lupe nimmt. »Vom schönen Schein« weiß der Autor zu berichten, und dass damit mitnichten eine Umgestaltung der Gesellschaft beabsichtigt ist. Für Betroffene bringt dieses Ideal nichts – außer der Hoffnung, es könnte einmal anders werden.

Das 1990 in Berlin gegründete Ramba Zamba ist eine der national und international renommiertesten Bühnen für inklusives Theater.

Bilderstrecke: »aerocircus – eine ­circensische karnevaleske mit planwagen entgegen aller linearitäten« Ein Stück von Thomas Köck unter der Regie von Jacob Höhne und mit räumlichen Entwürfen von Tomás Saraceno

rambazamba-theater.de

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