75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Dienstag, 2. Juli 2024, Nr. 151
Die junge Welt wird von 2819 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausbildung, Beilage der jW vom 05.06.2024
Selbstorganisierte Bildung

Klassenreise

An der Berliner »Schule für Erwachsenenbildung« geht Lernen anders. Porträt einer außergewöhnlichen Bildungseinrichtung
Von Barbara Eder
2.jpg
Schon im vergangenen Jahr forderten Tausende bei bundesweitem Protest eine »Bildungswende«

Die »Schule für Erwachsenenbildung« (SfE) ist keine Schule wie jede andere. Die Wände im vierten Stock des ehemals besetzten Gebäudes am Berliner Mehringdamm, Ecke Gneisenaustraße, zieren bunte Graffiti, vergilbte Schautafeln aus Pappe heben besondere Momente aus der Geschichte der selbstverwalteten Einrichtung hervor. Begonnen hat alles mit einem »Sturm auf die Institutionen«: 1972 rebellierten die Abendschüler der Westberliner Gabbe-Lehranstalt gegen die autoritäre Schulleitung und ihren als reaktionär empfundenen Führungsstil. Überfüllte Klassen, Leistungsdruck und die Möglichkeit, unliebsame Schüler vom Unterricht zu suspendieren, ließen sie in den Streik treten. 1973 gründeten sie die SfE in Berlin-Tempelhof. Bis Mitte der 90er Jahre gab es auch eigene Klassen für Frauen – um patriarchalen Strukturen und ihren »gläsernen Decken« Paroli zu bieten.

Seit 1980 befindet sich die SfE nebst weiteren Alternativprojekten im Kreuzberger Mehringhof. Sie firmiert als staatlich anerkannte »Ersatzschule« für Erwachsene, an der man mit Erreichen der Volljährigkeit Abiturkurse und solche zur Vorbereitung auf den »Mittleren Schulabschluss« (MSA) besuchen kann. Vor dem Ablegen der staatlichen Prüfungen gibt es Intensivtrainings mit Probebenotungen, ansonsten ist die SfE ein Ort ohne numerische Bewertungen. Die Begründung: Noten lenkten vom interessengeleiteten Wissenserwerb ab und verliehen zu opportunistischem Verhalten gegenüber Lehrern und Prüfern. Das meint jedenfalls Mathematiklehrer Simon, der auf fächerübergreifenden Unterricht in selbstorganisierten Arbeitsgruppen setzt – vorausgesetzt, es bleibt im Schulalltag noch ausreichend Zeit dazu.

Mehr als zwei Drittel der Lehrergehälter steuert der Berliner Senat bei, er kommt auch für das von Simon auf; abbezahlen muss die auf Vereinsbasis organisierte Schule mit den staatlichen Zuschüssen jedoch auch die Kosten für die Verwaltung. Lernende an der SfE haben prinzipiell Anspruch auf BAföG-Förderung, um sich in Vollzeit ihrer Weiterbildung widmen zu können. Mehr als 100 Euro monatlich möchte die Schulleitung pro Person nicht verlangen, über die Situation am Berliner Wohnungsmarkt wisse man Bescheid. Und ebenso sei klar, dass Nebenjobs während der Vorbereitungen aufs Abi oder die »Mittlere Reife« viel Kraft kosten können. Auch das macht die SfE zu einer »Rebel High School« – offen für alle, die »nach der Schule« eine weitere, andere fordern.

Soziale Selektion

Mit der Unterteilung in Hauptschule, Realschule und Gymnasium ist das deutsche Schulsystem ein Instrument zur sozialen Selektion, es trägt erheblich zur Reproduktion bestehender Ungleichheiten bei. Auf Basis empirischer Daten kommen Bildungsforscher seit Jahrzehnten zu ähnlichen Resultaten: Wer aus einem sogenannten bildungsfernen Haushalt kommt, hat seine vermeintliche Chance auf »höhere Bildung« schon vor dem ersten Schultag verspielt. Anders als das Konzept der Gesamtschule setzt das dreigliedrige Schulsystem der BRD auf Differenzierung anstatt Egalisierung, es entscheidet sich früh, wer eine »höhere Schule« besuchen darf und wer »in die Lehre« gehen soll. Ausschlaggebend dafür sind weder Talent noch Leistung; was zählt, ist die Klassenlage.

»Bildungskarrieren« in Deutschland sind bis heute eminent durch das Herkunftsmilieu bestimmt. Die Möglichkeit, zu studieren, wächst mit jedem Elternteil, das zuvor Abitur machen konnte; weitere begünstigende Faktoren sind ein Haushaltseinkommen über dem Durchschnitt und der Ort des Aufwachsens: Die noch verhältnismäßig besten Chancen, ein BRD-Gymnasium besuchen zu können, haben arme und armutsgefährdete Kinder in Berlin und Brandenburg, die schlechtesten jene Bayern und Sachsen. Deutschlandweit besuchen laut aktuellen Ergebnissen selbst des kapitalnahen Ifo-Instituts nur 26,7 Prozent der Kinder aus armen Verhältnissen ein Gymnasium, bei jenen aus wohlhabenderen sind es hingegen 59,8 Prozent – und damit mehr als doppelt so viele.

Soziale Mobilität ist mit Bildungsprivilegien eng verbunden: Ein Hochschulabschluss ist dem Elitenforscher Michael Hartmann zufolge stillschweigende Voraussetzung für sämtliche Spitzenpositionen in Justiz, Verwaltung, Politik und Wirtschaft. Ausnahmen davon bilden lediglich die Bereiche Militär und Gewerkschaft – mit verhältnismäßig hoher Toleranzschwelle für »Bildungsaufsteiger«. Doch nach Schichtende beginnt für sie nicht der Feierabend. Denn dann fängt das lebenslange Lernen an.

»Birth, School, Work, Death« – in den tabellarischen Bildungsgang nach bundesrepublikanischem Vorbild hat Shelly die Bresche geschlagen. Sie kommt aus dem westfälischen Minden, die Schule verlassen hat sie früh. Von den Mitschülern wurde sie aufgrund ihres Lesbischseins gemobbt, auch an körperliche Übergriffe einzelner Lehrer kann sie sich erinnern. Mit ihrer Entscheidung, den MSA an der SfE nachzuholen, hat Shelly an Handlungsfähigkeit dazugewonnen – über ihren Bildungsgang hatte anfangs nicht sie, sondern ihre Mutter entschieden. In Berlin hat sich Shelly nun auf Klassenreise begeben: Heute ist sie Vorstandsfrau im Verein der Rebellinnenschule, demnächst geht es für sie in der »K-Klasse« weiter.

Nicht die Normvorlage

Der Collegezweig der SfE entspricht dem klassischen »zweiten Bildungsweg«; Menschen, die berufstätig waren, können sich dort auf das Abitur vorbereiten. Die Angst davor hat Shelly vor Ort überwunden, nach ihrem Coming-out hat sie neue Freundinnen und Freunde gefunden. In ihrer Klasse gibt es nicht wenige, die – nicht anders als sie selbst – der neurotypischen Normvorlage keineswegs entsprechen. »Hier fragt man eher danach, wer nicht ADHS hat«, sagt sie und bekräftigt damit ein Stück weit ihr eigenes Anderssein. Auch Panikattacken und Lernschwächen sind stete Begleiter vieler SfE-Besucherinnen, ebenso wie Dyskalkulie, Legasthenie und Asperger-Syndrom. In der »AG Selbsthilfe« wird dies offen thematisiert, gegen Vorlage eines einschlägigen medizinischen Attests gibt es sogar einen »Nachteilsausgleich« – in Form von zusätzlicher Zeit bei staatlichen Abschlussprüfungen.

Mathematiklehrer Simon wünscht sich nicht nur ein Mehr an Neurodiversität, auch ansonsten könnte die Schule seiner Meinung nach noch viel bunter werden. Für computeraffine Schülerinnen mit Hang zur Autodidaktik mime er gerne das »Onlinetutorial«. Wenn es um interdisziplinäres Lernen in selbstorganisierten AGs geht, engagiert er sich ebenso. Seiner Erfahrung nach förderten »Peer-to-Peer-Methoden« die niedrigschwellige Wissensweitergabe, manchmal bildeten sich unter den Lernenden gar »Expertinnen« für bestimmte Fachgebiete heraus – dann kann Simon sich auch mal zurücklehnen.

Bei den insgesamt 150 Schülerinnen und Schülern liege der Anteil jener mit nichtdeutscher Muttersprache weit unter zehn Prozent, die SfE sei damit fast schon eine »Eliteschule« – zu den »Rich Kids« aus den besser gestellten Herkunftsmilieus gäbe es ein zu schwaches Gegengewicht. Um so besser, dass Shelly neben Simon sitzt. Ihre Reise durch die Klassen setzt sie souverän fort – als fortwährende Transgression von Barrieren. Was sie am Ende der Klassenreise machen möchte? »Was mit Menschen«, sagt sie. Und lacht.

Barbara Eder ist ­Sachbuchautorin und jW-Redakteurin.

Großes Kino für kleines Geld!

75 Augaben für 75 €

Leider lässt die Politik das große Kino vermissen. Anders die junge Welt! Wir liefern werktäglich aktuelle Berichterstattung und dazu tiefgründige Analysen und Hintergrundberichte. Und das zum kleinen Preis: 75 Ausgaben der gedruckten Tageszeitung junge Welt erhalten Sie mit unserem Aktionsabo für nur 75 €!

Nach ablauf endet das Abo automatisch, Sie müssen es also nicht abbestellen!

Ähnliche:

Regio: