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Aus: Ausbildung, Beilage der jW vom 05.06.2024
Fachkräftemangel

Fachkräfte (nicht) um jeden Preis

Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz senkt Anreize zur Ausbildung von Spezialisten und erleichtert verschärfte Ausbeutung von Arbeitsmigranten
Von Sebastian Borkowski
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»Sondervermögen« sieht die Ampelregierung bislang nur für Aufrüstung und Krieg vor

Es sei das »modernste Fachkräfteeinwanderungsgesetz der Europäischen Union, eines, das sich im weltweiten Vergleich sehen lassen kann und ganz vorne steht«. Mit diesen Worten begrüßte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im März 2023 das von der Ampelregierung verabschiedete Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Wer dachte, die Regierung habe – dem Sinne der Rhetorik von Die Linke nach – ein Gesetz geschaffen, das Menschen, die in der Bundesrepublik leben und arbeiten wollen, eine sichere Einreise, berufliche Perspektiven und einen sicheren Aufenthaltstitel gewährt, wurde eines Besseren belehrt. Denn Migranten, geflüchtet oder nicht, die ohne Anerkennung ihrer Abschlüsse und Berufserfahrung in der BRD häufig ohne Arbeits- und mit begrenzter Aufenthaltserlaubnis dastehen, hilft die Novelle wenig, wie sich herausstellt. Während der Kanzler von der »Modernisierung Deutschlands« schwärmt und auf »wirtschaftliches Wachstum« pocht, stehen Kapitalinteressen im Vordergrund.

Das verabschiedete (und nach drei Stufen erst ab Juni 2024 vollständig in Kraft tretende) Fachkräfteeinwanderungsgesetz verspricht eine Abkürzung zur Lösung des vielfach beschworenen und beklagten Fachkräftemangels. Vorbei an den berufsausbildungs- und bildungspolitischen Baustellen, die von der Ampel und ihren Vorgängerregierungen – wenn überhaupt – halbherzig angegangen wurden. Statt die langwierige und kostenintensive Berufsausbildung und Qualifikation von Schulabgängern oder Geflüchteter zu fördern, will die Regierung mit dem Gesetz passende Beschäftigte anwerben, die jung, gut ausgebildet und berufserfahren sein, aber keine Kosten verursachen sollen; welche, die kräftig in die Sozialsysteme einzahlen und die Wirtschaft dadurch in Schwung bringen.

»Eine Million Migranten«

Unternehmer und ihre Fürsprecher, wie etwa der Präsident des Kiel-Instituts für Weltwirtschaft (IfW Kiel), Moritz Schularick, reden von bis zu einer Million fehlenden Fachkräften (»Wir brauchen eine Million Migranten«) – eine klaffende Lücke, die nun dringend gefüllt werden müsse. Über die fast dreimal so vielen Erwerbslosen oder die knapp drei Millionen jungen Menschen ohne Berufsabschluss wird in diesem Kontext geschwiegen, ebenso über die knapp 200.000 Jugendlichen, die laut Berufsbildungsbericht 2023 des Familienministeriums trotz Bemühungen ohne Ausbildungsplatz in Warteschleifen und Maßnahmen verbleiben. Nun wird also die Werbetrommel im Nicht-EU-Ausland gerührt und mit der unbürokratischen Erteilung einer Beschäftigungs- und Aufenthaltserlaubnis um die dortigen Fachkräfte geworben.

Hat sich die Bundesrepublik in der Vergangenheit sehr schwergetan, wenn es darum ging, Qualifikationen und Erfahrungen, die sich jenseits der formalen deutschen Bildungs- und Berufsabschlüsse abspielen, anzuerkennen, ist man den Unkenrufen aus der Wirtschaft nach Arbeitskräften nun brav gefolgt. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz sieht weitreichende Lockerungen vor, wenn es darum geht, dem deutschen Arbeitsmarkt schnellstmöglich zur Verfügung zu stehen: Die Anwerbeplattform der Bundesregierung mit dem ansprechenden Titel »make-it-in-germany.com« bringt es auf den Punkt: »Wenn man also eine qualifizierte Berufsausbildung oder einen Hochschulabschluss vorweisen kann, ist man bei der Jobsuche nicht auf Beschäftigungen beschränkt, die in Verbindung mit dieser Ausbildung stehen.«

Fachfremde Beschäftigung

Gesucht werden also Fachkräfte, die sich auch bereit zeigen, etwas ganz anderes – und im Zweifel schlechter bezahltes – zu machen. Während »Schotten dicht!« die aktuelle deutsche und EU-weite Migrations- und Asylpolitik beschreibt, wird bei »Fachkräften« ein anderer Weg eingeschlagen. Für jene, die sich im zehn Kategorien umfassenden Bewertungssystem nach kanadischem Vorbild behaupten können, soll sich der Stacheldraht der EU-Außengrenzen öffnen: Wer insgesamt sechs Punkte erreicht, darf zur Jobsuche einreisen; wer über 39 Jahre alt ist, hat dabei direkt zwei Punkte verloren – das sind ebenso viele, wie durch eine anerkannte Berufsausbildung und Berufserfahrung gewonnen werden können.

Der deutsche Staat agiert wie eine beliebige Personalabteilung, lässt er lieber fertig ausgebildete Fachkräfte einfliegen, als selbst die notwendige Zeit und genügend Geld in die Ausbildung und Qualifizierung zu investieren. Es widerspricht allen gepredigten Werten von Entwicklungszusammenarbeit, wenn die Bundesrepublik den deutschen Pflegenotstand durch das schon beinahe aggressive Anwerben von medizinischem Personal aus dem Ausland zu beseitigen versucht und damit gleichzeitig eine Krise der Gesundheitsversorgung in anderen Ländern befeuert. Denn dieses Vorgehen kreiert einen doppelten Verlust  für die Herkunftsländer: In diesen fehlen anschließend schlicht jene Fachkräfte, in die sie zuvor investierten. Für ihre Volkswirtschaften ist es doppelt bitter und erstickt ihr Fortkommen und ihre Unabhängigkeitsbemühungen, dass die aufgewendeten Kosten für (Berufs-)Bildung letztlich anderen zugutekommen. Die ausbildenden Länder für diese Mühen zu entschädigen, steht zudem nicht einmal zur Debatte. Nach der Ausbeutung von Rohstoffen geraten nun also auch Fachkräfte anderer Nationen in den Fokus der einstigen Kolonialherren.

Gezielte Spaltung

Die Überschrift »Fachkräfteeinwanderung« trifft – wenn überhaupt – nur auf die Hälfte der Maßnahmen im Gesetz zu. Unter dem Titel »Westbalkanregelung« soll mit der Maßnahme »kurzzeitige kontingentierte Beschäftigungen« Personalengpässen im Niedriglohnsektor begegnet werden, wo aufgrund katastrophaler Arbeitsbedingungen immer weniger Menschen arbeiten wollen. Die Regierung nennt hier exemplarisch Landwirtschaft, Pflege, Baugewerbe und Gastronomie. Dort sollen jährlich über 50.000 Beschäftigte unabhängig ihrer Qualifikation einreisen »dürfen«, sofern ein Arbeitsvertrag nachgewiesen werden kann. Für kurzzeitige Arbeitsaufenthalte bis acht Monate wird dabei zwar die Sozialversicherungspflicht und Tarifgebundenheit der Unternehmen vorausgesetzt, doch Beschäftigte werden in eine Zwickmühle gedrängt, ist ihr Aufenthaltsstatus erst einmal an einen Arbeitsvertrag gekoppelt. Wer sich über schlechte Arbeitsbedingungen, niedrige Löhne und Gesetzesverstöße beklagt, riskiert nicht nur den Job, sondern damit womöglich auch das Aufenthaltsrecht. Eine unerträgliche Situation, die sich die Unternehmen zunutze machen. Das trägt wiederum dazu bei, dass die Arbeitsbedingungen in diesen Branchen immer weiter »geschliffen« werden.

Dieser Komplex erzeugt eine unsägliche, spalterische Konkurrenz und einen Unterbietungswettstreit zwischen einheimischen und ausländischen Beschäftigtengruppen. Das kann sich gesellschaftlich in Rassismus und politisch womöglich an Wahlergebnissen für rechte Parteien niederschlagen. Wer faire Arbeitskräfteeinwanderung gestalten will, muss dieser Abwärtsspirale jedoch glaubhaft einen Riegel vorschieben. Arbeitsmigranten gehören unter besonderen Schutz gestellt, der ihre Arbeitsrechte – und damit die Arbeitsrechte aller Lohnabhängigen – garantiert. Sie verdienen unternehmerunabhängige Aufenthaltstitel. Das widerspricht dem Ansatz, Arbeit und Bleiberecht untrennbar miteinander zu verweben und damit die gesamte Existenz eingewanderter Personen und Familien in die Hände der profitorientierter Unternehmer zu legen.

Die Ampel hat sich dagegen entschieden, mit Deregulierungen, verschärfter Ausbeutung und Gesetzesverstößen in den einschlägigen Branchen aufzuräumen und so deren Attraktivität für Beschäftigte und Ausbildungssuchende möglicherweise wiederherzustellen. Durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz wurden vielmehr Maßnahmen entwickelt, die für den stetigen Nachschub unzureichend geschützter und somit leicht auszubeutender Arbeitskräfte im Niedriglohnbereich sorgen. Maßnahmen für eine gute Berufsausbildung wie eine echte Ausbildungsgarantie mit Ausbildungsplatzumlage und Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen könnten dem hausgemachten Fachkräftemangel zu großen Teilen begegnen: Dadurch würden Perspektiven etwa für jene geschaffen, die bisher durch ein marodes Bildungs- und Sozialsystem auf der Strecke geblieben sind.

Sebastian Borkowski ist Gewerkschaftssekretär und schrieb in junge Welt zuletzt im Juni 2023 über die »Ausbildungsgarantie« im Weiterbildungsgesetz.

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