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Aus: Ausbildung, Beilage der jW vom 05.06.2024
Palästina-Solidarität an Schulen

»Das ist ja kein Fußballspiel«

Lehrer sind verunsichert, Schüler kritisieren Indoktrination: Berliner Bildungssenat forderte Verbot von Palästina-Solidarität an Schulen
Von Annuschka Eckhardt
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Die Studierenden hatten auch den Schülerprotest gegen das repressive Klima an Berliner Schulen unterstützt

»Sind Sie für Israel oder für Palästina, Herr Khoury?«, fragen die Schüler in der Pause zwischen den Unterrichtsstunden auf dem Flur einer Gesamtschule in Berlin-Neukölln. »So einfach ist das nicht, das ist ja kein Fußballspiel«, habe der Lehrer an einer Berliner Schule bitter geantwortet, wie er später berichtet.

Senat verbietet

Mitte Oktober hatte die Schulleitungen in Berlin ein Schreiben des Berliner Bildungssenats erreicht. Dieses sollte den »Umgang mit Störungen des Schulfriedens im Zusammenhang mit dem Terrorangriff auf Israel« erläutern. »Toleranz und die Duldung einer Pluralität von Meinungen« sei angesichts der »ethnischen und religiösen Vielfalt der Berliner Schülerschaft (…) unerlässlicher Bestandteil des Bildungs- und Erziehungsauftrags«, heißt es darin. Doch das finde »eine Grenze, wo terroristische Gewalt und Brutalität propagandistisch unterstützt werden«. Handlungen oder Äußerungen, »als Befürwortung oder Billigung der Angriffe gegen Israel oder Unterstützung der diese durchführenden Terrororganisationen Hamas oder Hisbollah« interpretierbar, seien als »Gefährdung des Schulfriedens (…) untersagt«, so der Senat.

»Symbole, Gesten und Meinungsäußerungen, die die Grenze zur Strafbarkeit noch nicht erreichen« seien laut Senat aber ebenfalls als eine solche Gefährdung zu werten: »Das sichtbare Tragen von einschlägigen Kleidungsstücken«, etwa die »als Palästinensertuch bekannte Kufija«, sowie »Ausrufe wie ›free Palestine!‹«. Selbst »das Zeigen von Aufklebern und Stickern mit Aufschriften wie ›free Palestine!‹ oder einer Landkarte Israels in den Farben Palästinas«. Derartige Verbote von Schulleitungen seien »auf Grund von Paragraph 46 Absatz 2 Satz 3 des Schulgesetzes durchzusetzen, ohne dass es weiterer Umsetzungsschritte bedarf«. Neben hausinternen »Erziehungs- oder Ordnungsmaßnahmen« seien »Verdachtsfälle strafbarer Handlungen« »unmittelbar« der Polizei zu melden.

Verunsicherte Lehrer

Der Brief habe im Lehrkörper für große Unsicherheit gesorgt, erzählt Ghassan Khoury in einem Café in Neukölln und dreht sich eine Zigarette. Unter Schülern aber habe »eine Art Phase der Politisierung eingesetzt«: Nachdem Palästina-Flaggen und ähnliches verboten wurden, »tauchten überall Sticker und Zeichnungen auf. Statt ›Sex‹ schrieben die Schüler ›Free Gaza‹ an die Türen der Schulklos«, sagt Schulsozialarbeiter Ali Karimi und nippt an seiner Cola. Khoury und Karimi* möchten anonym bleiben. Sie fürchten Repression, wenn sie mit der Presse sprechen und sich palästinasolidarisch äußern.

Manche Lehrer hätten die Aufforderung zur Denunziation ihrer Schüler ernst genommen, erzählen die beiden. »In unserem internen Whats-App-Chat überlegte eine Lehrerin, eine Schülerin bei der Polizei anzuschwärzen, weil diese eine Palästina-Halskette trug«, erzählt Khoury. Glücklicherweise habe sie dann doch davon abgesehen, das Kind zu denunzieren. Auch hätten sich einige Lehrer im internen Chat daran gestört, dass Elternteile Fotos oder Videos von Bombenangriffen auf Gaza in ihrem Whats-App-Status teilten.

Viele Schüler hätten stetige Angst um Angehörige in den von Israel besetzten Gebieten im Westjordanland, in Gaza »oder im Südlibanon oder auch in Syrien«. »Weil Lehrerinnen und Lehrer Angst hatten, in eine antisemitische Ecke gestellt zu werden, wurden die Sorgen der Kinder und Jugendlichen kaum bis gar nicht aufgefangen.« Statt Widersprüche zuzulassen, werde der Konflikt einfach gar nicht thematisiert. Viele Lehrer fühlten sich »nicht kompetent«, um mit Schülern über den Krieg in Gaza und seine Vorgeschichte zu sprechen. Verbeamtete Lehrer an Schulen hätten besonders aus Angst, ihren Beamtenstatus zu verlieren, keine Diskussion mit ihren Schülern führen wollen.

Mitte Mai ist es dann laut vor Neuköllner Schulen: Mehrere Dutzend Demonstranten, vorwiegend sehr junge, treffen sich vor dem Ernst-Abbe-Gymnasium zum Schulstreik. An diesem Donnerstag werden dort Abiturprüfungen geschrieben. Der Startpunkt sei hier gewählt worden, weil ein Lehrer einen Schüler im Oktober »für das Halten einer palästinensischen Flagge geschlagen hat«, sagt Jurek Luisenstadt*, einer der Organisatoren des Protests. »Und das vergessen wir nicht.« Der Schüler wurde nach dem Vorfall für eine Woche suspendiert. »Der Lehrer wiederum, soweit wir wissen, hat dafür keine Konsequenzen erfahren«, ärgert er sich. Der Protestzug der Jugendlichen und jungen Erwachsenen wird von mehreren Mannschaftswagen der Polizei eskortiert. »Wir wollen nicht weiter zuschauen, bis gar keine Schule mehr, gar keine Uni in Gaza mehr steht, keine Lebensgrundlage mehr übrig ist und müssen deswegen auf die Straße«, sagt Luisenstadt.

»Deutschland finanziert, Israel bombardiert«, schallt es später vor dem Campus der bekannten Rütli-Schule. Nicht nur Schüler, sondern auch Auszubildende und Studierende laufen mit. In der Schule herrsche ein »besonderer Anpassungsdruck an all das, was mit der deutschen Staatsräson zusammenhängt«. Dort sei die zwangsweise Ausbildung zum »richtigen deutschen moralischen Bewusstsein« auch besonders hoch, klagt Luisenstadt. Es gebe viele Fälle, in denen Lehrer einfach sagten »Nein, das Thema ist zu kompliziert, da reden wir nicht darüber«. Während über den Ukraine-Krieg »runter und hoch und runter« gesprochen worden sei, »soll das Thema zu kompliziert sein, um sich dazu zu äußern?«

Ende Februar empfahl die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) von Berlin-Neukölln dem Lehrpersonal die Broschüre »Mythos#Israel 1948« vom Berliner Verein Masiyot für den Unterricht. Der Verein erklärte, diese könne »falsche Vorstellungen« und »gefährliches Halbwissen« zur israelischen Staatsgründung »entkräften«. Etwa die »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost« kritisierte, die mit Israels Gründung zusammenhängende Nakba – Vertreibung Hunderttausender Palästinenser – werde darin als »gescheiterter Versuch der Araber, den jüdischen Staat auszulöschen« beschrieben.

Lernen unmöglich

»Da ist Bildungsmaterial doch ein sehr euphemistischer Ausdruck«, ärgert sich Luisenstadt. »In unseren Augen ist das Propagandamaterial!« Schüler würden dadurch verunsichert: »Weil es kann doch nicht sein, dass das, was von der Schule verbreitet wird, so weit weg ist von den Erfahrungen, die ich von palästinensischen Bekannten, Freunden und Familienmitgliedern kenne.« Schüler wurden dadurch gezwungen »in Opposition« zu treten, »zum Bildungssystem und der Art und Weise, wie es funktioniert und wie es sie indoktrinieren soll«.

Auch Frida Boje und Maya Sommer*, Schülerinnen einer Abiturklasse in Kreuzberg, berichten auf dem Schulstreik von einer »Anspannung« an der Schule. »Das Thema darf halt gar nicht zur Sprache kommen«, sagt die Schülerin mit dem Nasenpiercing. Lehrer seien »in einem Zustand der Nervosität, weil sie halt so krass Angst haben, antisemitisch gelesen zu werden«. Auch sie kamen mit der »Mythos«-Broschüre in Kontakt. »Für eine eigene Meinung und um sich gegen diese Repression stark zu machen, muss man Kontextwissen haben«, erklären sie. Werde dies in der Schule nicht beigebracht, »dann hat man halt einfach weniger Zeit für Schule: Weil man sich privat damit auseinandersetzen muss!«

*Namen der Redaktion bekannt

Annuschka Eckhardt ist jW-Redakteurin im Ressort Innenpolitik.

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