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Aus: Ausbildung, Beilage der jW vom 05.06.2024
Islamischer Religionsunterricht

Islam in die Schultüte

Kritik an Religionslehre erfolgt selektiv. Die Zuschreibung eines regressiven Charakters entspringt voreingenommener Tendenz
Von Harry Harun Behr
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Bessere Bedingungen im Bildungsbetrieb schaffen bessere Bedingungen für alle

Dies gleich vorweg: Niemand ruft des Nachts an und bittet um gefälligst mehr osmanisches Kalifat im schulischen Islamunterricht – kein Staatspräsident, kein Religionsvertreter. Der Verfasser dieses Beitrags gilt zwar als links-muslimisch und liberal, kann aber unbehelligt seine Arbeit tun, um die ihn Politik und muslimische Gemeinden bitten: Curricula für den islamischen Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen basteln, die Lehrkräfte für das Fach ausbilden sowie sich mit dem Kultusministerium abstimmen.

Und mit den islamischen Religionsgemeinschaften. Die nämlich dürfen, ähnlich wie die beiden großen Kirchen, beim theologischen Profil ihres Unterrichts und bei der Lehrbefugnis mitreden. Jedenfalls so lange, wie es sich um Religionsunterricht mit Verfassungsrang handelt. Bestimmte Religionsgruppen nicht zu mögen, setzt deren Mitwirkungsrechte nicht einfach so außer Kraft. Man muss nicht für Religionsunterricht an der Schule sein. Aber für das Recht des Kindes auf Authentizität, sobald es um seine Religion geht.

Tendenziöse Urteile

Jüngere Studien, wie etwa im British Journal of Religious Education im März, möchten nun nachweisen, angehende muslimische Lehrkräfte seien latent islamistisch und antisemitisch und der Islamunterricht ein prekäres Unterfangen. Solche Geschmacksurteile sind das Ergebnis vorrangig tendenziöser Adressierung: Fundamentalismus versus Reform zum Beispiel ist eine aus der Zeit gefallene Globalkategorie, die auch auf Finanz- und Arbeitsmarktpolitik anwendbar ist – mit ebenso flachen Ergebnissen.

Wissenschaft hat dort einen »Spin«, wo sie politisch gefällige Gegenhorizonte anzeichnet: wider politischen Fortschritt, wider partizipative Jugend, wider zivilgesellschaftliches Korrektiv. Solche Gegenstände deuten auf die altprophetischen Fundamentalkonflikte in den Erzählungen der Torah oder des Korans. Sie machen deutlich, warum Religion die Verhältnisbestimmung von Macht und Ermächtigung thematisiert und welche persönlichen Haltungen sich damit verbinden können: systemkritisch sein, die Fragen stellen, die nicht mehr gestellt werden, sich querlegen, unfolgsam sein.

Genau diese Insubordination gegenüber Konsens, Zeitgeist und etabliertem Wissen macht Religion zum sozialen Kapital, folgt man dem einstigen Frankfurter Rechtsphilosophen und Richter am Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde. Was davon in der Rechtsbeziehung zwischen Staat und Religion Gestalt angenommen hat, bezieht sich aber auch auf die eigentliche Religion hinter der inszenierten. Das gilt ohne Kulturvorbehalt für das Jüdische, das Christliche, das Muslimische, das Andere. Die feindliche Übernahme von Religion durch den Faschismus war einer der maßgeblichen Gründe dafür, warum heute Religionsunterricht als einziges Schulfach in die bundesdeutsche Verfassungsarchitektur eingeschrieben ist.

Was die Jugend als Adressatin des Islamunterrichts angeht, so denkt und agiert sie heute intersektionaler, transnationaler und verantwortungsethischer als früher. Als Kriterium diesbezüglicher Sozialforschung korrespondiert ein Merkmal wie »östlich« mit einer eher transgenerationell und bewältigungsbereiter eingestellten Jugend, das Merkmal »westlich« mit mehr Selbstbezug und Polarisierungsbereitschaft. Muslimische Jugend in Deutschland vereint beides, gewichtet aber deutlicher das religiöse Progressionsmotiv gegen jenes der kulturellen Transmission: »Den Islam lernen kann ich in der Moschee. Aber im Islamunterricht will ich verstehen, wie er funktioniert. Ich will den Quellcode!« Zudem begründet sie moralische Urteilsfähigkeit vermutlich weniger formallogisch und stärker beziehungslogisch.

Pädagogische Beziehungsarbeit

Mithin stellt der Islamunterricht einen Raum der pädagogischen Beziehungsarbeit dar. Dabei gerät er in wiederkehrenden Konjunkturen unter Druck. Hier weht der kalte Wind nur scheinbar von rechts außen: Die Diffamierung von Religion folgt Abwertungen der machtnahen, sogenannten bürgerlichen Mitte, weisen Andreas Zick, Bielefelder Konfliktforscher, und Heiner Bielefeldt, von 2010 bis 2016 UN-Sonderberichterstatter für Religions- oder Glaubensfreiheit, wissenschaftlich fundiert nach. Vieles davon lässt sich nicht mehr eindeutig der klassischen politischen Farbenlehre zuordnen: Feindseligkeit artikuliert sich aus den gesellschaftlichen Zwischenräumen heraus. Antisemitismus, Islamhass, Rassismus und Demokratiefeindlichkeit brauchen dafür keine Referenz mehr. Oder mit Psalm 36 gesprochen: Das Übel findet Gefallen an sich selbst.

Islamunterricht an den öffentlichen Schulen ist durch die Bildungs- und Schulgesetze und durch die Lehrerdienstordnungen eingehegt. Sie gewährleisten pädagogische Tauglichkeit und Handhabung gegen die ideologische Überwältigung der Schülerschaft. Dann sind da die Lehrpläne: Sie sortieren klassische Themenfelder wie Lehre, Praxis, Schrifttum, Geschichte, Institutionen, Recht, Ethik, Kunst oder Philosophie des Islams, durchaus auch mit landeskundlichen Verweisen, aber immer mit Bezug zu den gegenwärtigen Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler. Den besten Überblick dazu bietet die Schulbuchreihe »Saphir«, die mittlerweile im Cornelsen-Verlag erscheint.

Darüber hinaus darf gefragt werden, inwieweit der Unterricht von seiner inhaltlichen Programmatik her demokratiefördernd ist. Dazu verhalten sich seine pädagogischen Leitmotive wie Achtsamkeit üben, Urteilskraft entwickeln, diskursfähig und spiritualitätsfähig werden. Dies alles im Rahmen dialektischer Kompetenz und empathischen Verstehens: fähig und bereit sein, Andersartigkeit zu schätzen und Widersprüchlichkeit, etwa diejenige der Moderne, nicht nur auszuhalten, sondern konstruktiv zu nutzen. Aber auch, sich gegen Widerstände zu behaupten.

Über Fachlichkeit hinaus

Zu den theologischen Kennzeichen des Islamunterrichts, die mit demokratischen Haltungen korrespondieren, gehört ferner die Stärkung von drei normativen Kräften: der Geist gegenüber dem Buchstaben, das Subjekt gegenüber dem Kollektiv, die Situation gegenüber der Tradition. Das beschreibt auch die curricularen Leitperspektiven, über die sich die Kompetenzen mit den Inhalten verbinden. Muhammad gab hier der Religion eine Wendung vom Formalen zum Sozialen: Muslim sei, vor dessen Zunge und Hand die Mitmenschen sicher sind, und: »Hütet euch vor dem Zusammenhalt im Falschen. Dann könnt ihr euch gleich am Schwanz eines Kamels festhalten, das im Begriff ist umzufallen!«

Das führt zur Frage nach dem Richtigen: Islamischer Religionsunterricht ist dann gut, wenn er guter Unterricht ist. Unterricht ist dann gut, wenn die Ziele stimmen, die über die seine Fachlichkeit hinausweisen: für die Solidargemeinschaft einstehen, Freiheit verteidigen, Menschenwürde achten, Toleranz üben, Rechtsstaat schützen und Demokratie leben. Alles andere ist falsch.

Harry Harun Behr ist Professor für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Islam an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Mitglied im Rat für ­Migration.

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