75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Dienstag, 2. Juli 2024, Nr. 151
Die junge Welt wird von 2819 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausbildung, Beilage der jW vom 05.06.2024
Kürzungspolitik von Javier Milei

Kreuzzug gegen Bildung und Erinnerung

Neoliberale Reformen von Argentiniens Präsident Javier Milei sorgen für große Proteste und erste fatale Verwerfungen im Erziehungswesen
Von Santiago Stavale, Buenos Aires
8 (1).jpg
Angesichts des Bildungsnotstandes von heute fürchten Lernende und Lehrende um das Wissen von morgen

»Die Bildung des Volkes steht nicht zum Verkauf, sie wird verteidigt.« Der Slogan, der diesen Titel begründet, wurde am 23. April bei der wichtigsten Universitätsmobilisierung in der Geschichte Argentiniens gesungen. Mehr als eine Million Menschen kamen dabei in den größten Städten des Landes zusammen, um gegen die Reformen zu protestieren, welche die Regierung des rechten Präsidenten Javier Milei im öffentlichen Bildungswesen im allgemeinen und im Universitätssystem im besonderen vorzunehmen versucht. Mit fiskalistischen Argumenten (»No hay plata« – »Es gibt kein Geld«) oder populistischen Argumenten (»los pobres no merecen pagarles el estudio a los ricos« – »Die Armen haben es nicht verdient, den Reichen das Studium zu bezahlen«) versuchte sie, ein soziales Klima zu schaffen, um die Unterfinanzierung der nationalen Universitäten zu legitimieren und einen möglichen Tarif zu rechtfertigen.

Die Universitäten müssen ihre akademischen Aktivitäten bei einer jährlichen Inflation von über 270 Prozent mit dem gleichen Budget für 2023 ausführen. Einige Fachreferate arbeiten dadurch bereits an der Grenze ihrer Kapazitäten und müssen zusätzlich damit rechnen, dass die knappen Ressourcen in wenigen Monaten erschöpft sind. Dennoch konnte die Arroganz der Regierung den gesellschaftlichen Konsens rund um das argentinische Universitätssystem nicht überwinden. Trotz seiner Mängel ist dieses durchaus zu einer Referenz in Lateinamerika geworden, sowohl wegen seiner akademischen Qualität (in internationalen Rankings ist es auf wichtigen Plätzen erfasst) als auch wegen seiner Freiheit und seinem uneingeschränkten Zugang.

Die Kämpfe verbinden sich

Der Kampf zur Verteidigung der Universitäten führte zum Zusammengehen mehrerer sozialer Sektoren, die bis dahin geschwächt, fragmentiert und mit wenig Erfahrungen im Kampf auf der Straße ausgestattet waren. Zudem beteiligten sich Tausende Menschen an den Protesten, die sich einer solchen Mobilisierung zum ersten Mal überhaupt angeschlossen hatten. Sogar Teile der Regierungsbasis, die mit den Attacken des Staates nicht einverstanden sind, nahmen an den Demonstrationen teil. Die Anwesenheit der Spitzen der wichtigsten Gewerkschaftsverbände nahm bei den Protesten eine Schlüsselrolle ein, die auch der Regierung nicht verborgen blieb.

Angesichts der allgemeinen Ablehnung, die sich durch die Massendemonstrationen ausdrückte und der Angst, mit ihrer Politik ein gefährliches Bündnis zwischen Arbeiterbewegung und Studentenbewegung zu fördern, beruhigte die Regierung ihren konfrontativen Diskurs und sah sich gezwungen, die Legitimität der Proteste zu akzeptieren. Der Linken warf die Regierung vor, sie politisiere die Debatte. Zwar kann die infolge der Demonstrationen genehmigte Budgeterhöhung für die Universitätshaushalte als Teilerfolg der Protestbewegung verstanden werden. Die Mittel bleiben jedoch weiterhin hinter dem eigentlich notwendigen zurück.

Der Kampf wird jedoch weiter offen geführt, und die Versammlungen nehmen an den verschiedenen Universitäten des Landes weiter zu. Die wirtschaftliche Notlage der Universitäten hält an, während Gehälter der Lehrkräfte einen historischen Rückgang verzeichnen. Mit der möglichen Verabschiedung des sogenannten Grundlagengesetzes (»Ley de bases«) ist eine noch zunehmende Unterfinanzierung des Sektors und damit die faktische Zerstörung des Systems von Wissenschaft und Technologie abzusehen.

Kampffeld Erinnerungspolitik

Einen weiteren großen Kampf haben die Funktionäre aus Mileis Kabinett schon lange vor ihrem Amtsantritt begonnen: den Kampf um die Erinnerung. Der derzeitige Präsident und seine Vizepräsidentin Victoria Villarruel versuchen schon seit einiger Zeit, in einem die letzte zivil-militärische Diktatur Argentiniens rechtfertigenden Diskurs die Verbrechen derselben zu leugnen. Sie behaupten, in unserem Land habe es keine 30.000 Inhaftierten und Verschwundenen gegeben. Ebenso behaupten sie ähnlich den Angeklagten während der Prozesse zur Aufklärung der Staatsverbrechen (»Juicios de la verdad«, Wahrheitsprozesse), das Militär habe keinen systematischen, staatlich organisierten und verwalteten Plan zum Verschwindenlassen, Foltern und Ermorden politischer Aktivisten umgesetzt, sondern es habe lediglich »Exzesse« im Kampf gegen »marxistischen Terrorismus« gegeben.

Es war angesichts dessen nicht überraschend, dass sie Menschenrechtspolitik in alarmierendem Ausmaß kürzen und die wichtigsten Bildungs- und Erinnerungsprogramme angreifen würden. Letztere, zu denen die Vermittlung der jüngsten Vergangenheit und die Reflexion über die Verbrechen der zivil-militärischen Diktatur gehören, wurden von ihnen als Plan der »marxistischen Indoktrination« in Schulen diffamiert. Ihr Ziel ist, den sogenannten demokratischen Konsens zu brechen, der in Argentinien über die vergangenen 40 Jahre aufrechterhalten wurde und der ein kollektives Gewissen gewährleisten soll, damit »Nie wieder« dieses Kapitel der argentinischen Geschichte weiterhin betiteln wird.

Ein Beispiel aus erster Hand

Aufgrund der Erfahrung als Universitätsdozent und Spezialist für die jüngere argentinische Geschichte wurde der Autor in das pädagogische Team der Dauerausstellung der »Madres de Plaza de Mayo – Línea Fundadora« (Mütter der Plaza de Mayo – Gründungslinie) berufen, das sich in der, während der Diktatur als geheimes Internierungslager genutzten Marineschule (Escuela Mecánica de la Armada, ESMA) befindet. Die Stätte ist heute ein von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärter Ort der Erinnerung. Die in Zusammenarbeit des ehemaligen Bildungsministeriums und der Universität José C. Paz entwickelte Ausstellung, zielte auf die Weitergabe von Geschichte und Erinnerung der »Madres« an neue Generationen ab.

In nur drei Monaten kamen mehr als 1.500 Besucher zu den veranstalteten Führungen, darunter vor allem Studierende verschiedener Bildungseinrichtungen sowie Mitarbeiter verschiedener staatlicher Organisationen. Doch mit der Auflösung des Bildungsministeriums und der oben beschriebenen Unterfinanzierung der Universitäten wurde das Team, kurz nachdem es seine Arbeit aufgenommen hatte, halbiert. Ein eigentlich nur als unverzichtbar zu beschreibendes Instrument zur Förderung des politischen und demokratischen Bewusstseins unter den jüngsten Menschen ging dadurch verloren. Von ursprünglich sechs Beschäftigten arbeiten aktuell nur noch drei in der Einrichtung. Dadurch ist der Betrieb nur noch eingeschränkt möglich: War das Museum zunächst tagsüber durchgehend geöffnet, kann nun nur noch ein Betrieb auf Nachfrage stattfinden. Die argentinische Gesellschaft braucht diese Instrumente jedoch, um neuerliche Anzeichen zur Etablierung autoritärer Regierungen zu erkennen und ihre Einführung frühzeitig unterbinden zu können.

Die Abschaffung der staatlichen Bemühungen um eine vernünftige Bildungs- und Erinnerungspolitik sind offensichtlich ein notwendiger Teil von Mileis Plan zur Umstrukturierung des Landes. Sein Kreuzzug gegen öffentliche Bildungseinrichtungen und Orte der Erinnerung ist von zentraler Bedeutung für den von ihm begonnenen Kulturkampf, um ein Regime planmäßiger Verelendung zu errichten, das auch der letzten zivil-militärischen Diktatur den Weg ebnete. Doch Milei unterschätzt die argentinische Volksbewegung: Er weiß nicht, dass sie viele Jahre des Kampfes hinter sich hat. Er weiß nicht, dass sich bei einer Bevölkerung, die ihr Gedächtnis mit derart viel Mühe kultiviert hat, nicht so leicht eine Amnesie etablieren lässt und dass er damit, schlussendlich, nicht durchkommen kann. ¡No pasarán!

Übersetzung: David MaiwaldSantiago Stavale ist Soziologe, Sozialwissenschaftler und Aktivist. Er schrieb in junge Welt zuletzt am 30.4. über die argentinische Linke.

Großes Kino für kleines Geld!

75 Augaben für 75 €

Leider lässt die Politik das große Kino vermissen. Anders die junge Welt! Wir liefern werktäglich aktuelle Berichterstattung und dazu tiefgründige Analysen und Hintergrundberichte. Und das zum kleinen Preis: 75 Ausgaben der gedruckten Tageszeitung junge Welt erhalten Sie mit unserem Aktionsabo für nur 75 €!

Nach ablauf endet das Abo automatisch, Sie müssen es also nicht abbestellen!

Ähnliche:

Regio:

Mehr aus: Ausland