Eine Partei eigener Art
Von Christian StappenbeckAm 30. Mai 1949, als der III. Deutsche Volkskongress in Berlin die Verfassung für eine deutsche demokratische Republik verabschiedete, war die Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKiD) bereits zehn Monate alt. Darauf basierend hatte die Synode einen zwölfköpfigen Rat gewählt. Überraschend war nicht der hochgeachtete Repräsentant des kirchlichen Antifaschismus Martin Niemöller als Ratsvorsitzender gewählt worden, sondern der Berliner Bischof Otto Dibelius, führender Vertreter einer flexiblen »christlich-abendländischen« Front gegen den Kommunismus. Die Idee des »christlichen Abendlandes« fügte sich maßgerecht der politischen Nachkriegskonzeption der USA ein, wonach man revolutionären Erschütterungen im krisengeschüttelten Europa insbesondere auch mit einer christ-demokratischen Propaganda begegnen wollte.
Mit dem Blick auf staatliche Verfassung und kirchliche Grundordnung bleibt dennoch eine nicht unerhebliche Gemeinsamkeit festzuhalten. Beide Dokumente standen für das Streben nach nationaler Einheit. Eines proklamierte das Ziel der einigen deutschen Republik auf antifaschistischer Grundlage gemäß Potsdamer Abkommen; das andere galt dem Ziel der »Gemeinschaft der deutschen evangelischen Christenheit«. Diese Tatsache führte dazu, dass die Ostseite den protestantischen Kirchenbund als möglichen Verbündeten im Ringen um das einheitliche friedliebende – also blockfreie – Deutschland wähnte.
Dass die DDR einen Brückendienst der Kirche anzunehmen bereit war, wurde besonders deutlich bei einem bischöflichen Vermittlungsangebot im Dezember 1950: Die beiden Regierungschefs Grotewohl und Adenauer sollten im Hause des Vorsitzenden des Rates der EKiD zu einer »Demonstration des guten Willens« zusammentreffen – ein Vorschlag von Dibelius, der nicht von der DDR-Seite, sondern von der Bundesregierung brüsk abgewiesen wurde. Auch im folgenden Jahr brachten die Kirchenführer wiederholt »den dringenden Wunsch« der Kirche zum Ausdruck, dass man in der Frage der Wiedervereinigung »zu einer Verständigung kommen möge«. Aber der katholische Rheinländer Adenauer, für den hinter der Elbe bereits Sibirien begann, hatte mit dem protestantischen Osten wenig im Sinn. Ein Zuwachs von 14 Millionen nichtkatholischen Wählerstimmen stand nicht auf seiner Wunschliste.
Genau zu der Zeit, als der Volkskongress die Verfassung verabschiedete, entwarf der Ratsvorsitzende (als Berliner Bischof) einen Hirtenbrief, der zu Pfingsten von den Kanzeln verlesen wurde. Es war die öffentliche Kampfansage an die entstehende DDR. »Es ist viel zu sagen, zu bitten und zu warnen, nach allen Seiten hin, nach Westen und nach Osten«, hieß es darin. Trotz vordergründig verbaler Neutralität: Nach Westen erfolgte allenfalls ein höfliches Bitten, nach Osten ein drohendes »Warnen«. So hörten also die Besucher der Pfingstgottesdienste im Juni 1949 folgendes:
Zwei Festpredigten
»Gegenwärtig bedrückt uns mehr als alles andere die Sorge, dass das Staatsgebilde, das um uns her entsteht, so viel von den Zügen zeigt, denen in der nationalsozialistischen Zeit unser Widerstand um Gottes willen gegolten hat: Gewalt, die über alles Recht hinweggeht, innere Unwahrhaftigkeit und Feindschaft gegen das christliche Evangelium. In der Abteilung K 5 der sogenannten Volkspolizei ist die Gestapo unseligen Angedenkens wieder erstanden.« Es werde »mit denselben Methoden gearbeitet wie damals«. Dies maßlose Kanzelwort sprach also der DDR von vornherein die moralische Berechtigung ab. Folgerichtig schlug der EKiD-Ratsvorsitzende die Einladung zum Staatsbankett anlässlich der Gründung der DDR aus. Völlig anders war die Haltung zur Konstituierung des westdeutschen Staates. Dibelius ließ es sich nicht nehmen, in Bonn zur Bundestagseröffnung die Festpredigt zu halten – derselbe Kirchenführer, der zur braunen Reichstagseröffnung im März 1933 die Festpredigt gehalten hatte.
Dem Anschein der Ausgewogenheit verpflichtet, benannte die Kirche bei jeder der deutschen Regierungen einen ständigen Vertreter mit dem Titel »Beauftragter der EKiD«. Für die DDR war das der VVN-Mann Propst Heinrich Grüber. Von ihm gibt es einen Briefwechsel mit Wilhelm Girnus, Redakteur beim Neuen Deutschland, worin nach dem erwähnten Kanzelwort die Streitpunkte deutlich markiert wurden. Girnus hielt dem KZ-Kameraden Grüber einen Dibelius-Satz vom März 1933 entgegen (als Ausdruck damaligen Wächteramtes): »Ein neuer Anfang staatlicher Geschichte steht immer irgendwie im Zeichen der Gewalt (…).« Und wenn der Staat also gegen die Feinde seiner Ordnung vorgeht, »dann walte er seines Amtes in Gottes Namen«. Das Hitlerregime – »im Namen Gottes«! Das traf die Schwachstelle der Kirchenführer deutschnationaler Provenienz, also fast aller.
Hier ist der klerikale Begriff vom Wächteramt (der Kirche) zu klären. Nach dem Ende der Einheit von Thron und Altar 1918 schlug die Stunde eines neuen Kirchenführertyps, den Dibelius verkörperte. Auf ein alttestamentliches Prophetenwort vom »Wächter Israels« (Hesekiel 33) sich stützend, beanspruchte er für sich und seinesgleichen ein Aufsichtsamt über Staat und Gesellschaft. Gegenüber der ungeliebten Republik von Weimar kam es in Kanzelabkündigungen, Predigten, Denkschriften oder synodalen Kundgebungen zum Ausdruck. Der Wille, außerhalb des kirchlichen Raumes mitzureden, wurde auch als »Öffentlichkeitsanspruch« bezeichnet. Die Formulierung des Anspruches lautete in den einzelnen Kirchenverfassungen verschieden. Die Grundordnung Berlin-Brandenburgs formulierte es 1948 so: Die Kirche habe den Auftrag, darüber zu wachen, dass »die Geltung der Gebote Gottes im öffentlichen Leben anerkannt wird«.
Die Offiziere der Sowjetischen Militäradministration und die SED waren seit 1948 bestrebt, die Tätigkeit der Kirchen auf das »Religiöse« zu beschränken. Diese Einengung, ab 1949 von der Verwaltung des Inneren leicht verschärft, verband sich gelegentlich und letztlich inkonsequent mit der Erwartung, dass die offizielle Kirche »positiv« Stellung nehmen möge zu bestimmten politischen Zielen – von der Bodenreform und Atomwaffenächtung bis zum Problemkreis Einheit und Friedensvertrag. Obwohl die Beschränkungsabsicht auf das Kultische einerseits und der Öffentlichkeitsanspruch andererseits letztlich unvereinbar waren, betonten beide Seiten wiederholt und beschwörend, nichts liege ihnen ferner als ein »Kulturkampf« zwischen Kirche und Staat. Zugleich steuerten beide auf ihn zu, ihn quasi bedingt-vorsätzlich in Kauf nehmend. Kirchlicherseits verlautete im April 1950 der klassische Satz: »Die Kirche wünscht keinen Kampf mit der Staatsgewalt, sowenig sie ihn fürchtet.«
Überparteilicher Anschein
Unüberbrückbar war der Gegensatz auf dem Feld Schule–Jugend–Religionsunterricht, weil die Maxime galt: Wer die Jugend gewinnt, hat die Zukunft. Der Konflikt barg wachsenden Zündstoff und führte im März 1950 zu der kirchlichen Drohung, eine Fülle von Vorwürfen als Grundsatzerklärung kanzelöffentlich zu machen. Die Sowjetische Kontrollkommission in Berlin-Karlshorst war durch die Ankündigung öffentlicher kirchlicher Stellungnahme alarmiert – das zeigt ihr Maßnahmeplan vom April 1950. Der Plan beinhaltet ein langfristig gültiges Handlungskonzept, das sich auch die SED zu eigen machte und mit welchem dem kirchlichen Öffentlichkeitsanspruch begegnet werden sollte: Lokalisierung und Neutralisierung einzelner »feindseliger Auftritte von Kirchenleuten« unter Vermeidung von Zwangsmaßnahmen; Hinwirken auf die »strikte Nichteinmischung der Kirche in politische Angelegenheiten«; Anstrengungen dahingehend, sie für bestimmte Zielstellungen zu gewinnen; sowie betonte Garantie des materiellen kirchlichen Besitzstandes (Grundeigentum, Gebäude).
Die Aufrechterhaltung ihres überparteilichen Anscheins gelang der EKiD nach 1949 für einige Zeit, weil in den kirchlichen Leitungsorganen die Antifaschisten (Grüber, Niemöller, Heinemann – Gegner Adenauers und der Remilitarisierung) zwar angefochten, aber noch nicht völlig verdrängt waren. Ein unverdächtiger Zeuge wie der westdeutsche Oberkirchenrat Erwin Wilkens bestätigt im Rückblick recht offen die tiefe inhaltliche Übereinstimmung zwischen EKiD und BRD: »Noch die letzte ausführliche Entschließung der Synode zur Einheit des Volkes liest sich wie eine Entschließung der Mehrheit des Deutschen Bundestages.« Die Phase der Konfrontation zwischen Kirche und Staat der DDR hielt bis in die 60er Jahre an; sie endete erst mit dem Umschwenken der Bonner Politik Richtung Entspannung und Anerkennung der DDR. Übte die evangelische Kirche beim staatlichen Beginn der DDR ein legitimes Wächteramt aus? Solange es ihr dabei selbstbezogen um die Bewahrung von Einfluss, Vorrechten und Besitzstand ging, konnte sich die Kirche nicht auf den Auftrag des Evangeliums berufen, sondern sie war – Partei. Eine Partei eigener Art.
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