Umfassende Umbrüche
Von Max RodermundDie als »preußischer Weg« bezeichnete bürgerliche Bauernbefreiung in Deutschland verband die Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise mit Elementen feudaler Unterordnung. Mit 1,8 Milliarden Mark und 425.169 Hektar Landabtretungen mussten sich die Bauern von Feudallasten »freikaufen«. Landarbeiter wuchsen im Verlauf des 19. Jahrhunderts zur zahlenmäßig größten sozialen Gruppe auf dem Land an. Aus der wirtschaftlich und politisch beherrschenden Rolle der reaktionären Junker resultierte eine weitgehend rechtlose Lage der verarmten Landbevölkerung.
Nur vor diesem Hintergrund ist der historische Bruch, den die 1945 begonnene Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bedeutete, zu verstehen. Sie war nicht allein eine Reorganisation auf die durch den Krieg zerrüttete landwirtschaftliche Produktion, sondern beendete die halbfeudale Junkerherrschaft. Auf die Frage, warum mit der Bodenreform neues Privateigentum geschaffen wurde, statt eine Sozialisierung voranzutreiben, antwortete Walter Ulbricht 1947 weitsichtig: »Das könnte Ihnen, meine Herren, so passen, dass der Großgrundbesitz zusammengehalten wird, damit Sie später diesen Großgrundbesitz in die Hände der alten Besitzer zurückgeben können!«
Mit Hilfe der Bodenreformkommissionen setzte die Landbevölkerung Enteignungen und die Neuaufteilung des Bodens selbst aktiv durch. 3,3 Millionen Hektar Land, etwa ein Drittel der gesamten land- und forstwirtschaftlichen Nutzfläche der SBZ, wurden enteignet. 2,2 Millionen Hektar des Bodenreformfonds wurden vorrangig an landlose Bauern, Umsiedler und Kleinbauern verteilt. Die Eigentumsstruktur im Osten Deutschlands hatte sich damit radikal verändert. Die Übergabe der Eigentumsurkunden über den zugeteilten Boden wurde zu einem Festtag in den Dörfern. Die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB), Maschinenausleihstationen (MAS) und die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) schufen noch vor der Gründung der DDR die organisatorische Grundlage zur Demokratisierung der Dörfer und zur Entwicklung kooperativer Produktionsbeziehungen der Neubauern.
1952 gab es insgesamt 871.724 Landwirtschaftsbetriebe in der DDR. Davon waren nur 28.473 staatliche Betriebe. Die durchschnittliche Größe eines Betriebs betrug in etwa 7,5 Hektar. Zwei der acht Millionen Werktätigen arbeiteten zu diesem Zeitpunkt in der Landwirtschaft. Zur Steigerung der Nahrungsmittel- und Rohstoffversorgung und für einen effizienteren Arbeitskräftebesatz rückte die Überwindung der Kleinproduktion nun auf die Agenda. Diese Frage blieb ungelöst, solange auch die »deutsche Frage« nicht abschließend geklärt war. Das Scheitern der Strategie für ein einheitliches, demokratisches und bündnisfreies Deutschland machte es notwendig, eine vom Westen unabhängige und souveräne wirtschafts- und sicherheitspolitische Entwicklung voranzutreiben. Die zweite Parteikonferenz der SED gab den Weg zur Genossenschaftsbildung frei. Dieser von 1952 bis 1960 dauernde Prozess wird bis heute unter dem Schlagwort der »Zwangskollektivierung« als Beleg für den undemokratischen Charakter der »SED-Diktatur« angeführt.
Tatsächlich bestand vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Entwicklungserfordernisse die Aufgabe darin, in kürzester Zeit gewaltige Umbrüche in den Arbeits-, Lebens- und Denkweisen der Bauern voranzubringen und die notwendigen Mittel zur landwirtschaftlichen Großproduktion herauszubilden. Ohne die aktive Beteiligung der großen Masse der Bauern war dieser Prozess nicht zu schaffen. Für die allermeisten alteingesessenen Mittel- und Großbauern war es 1952 noch unvorstellbar, die über Generationen herangereifte Form des selbständigen Wirtschaftens aufzugeben. Viele verhielten sich ablehnend, andere abwartend. Es waren die kleinen Höfe, Landarbeiter und Neubauern, die einfacher für den Eintritt in die LPG zu gewinnen waren.
Der Aufbau des Sozialismus steckte in der DDR und Osteuropa noch in seinen Kinderschuhen. Nicht nur in der DDR entbrannten vor diesem Hintergrund wiederholt scharfe Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Freiwilligkeit und zielgerichteter Förderung der Genossenschaften durch den Staat. Vorschläge, wie in Polen staatliche Entwicklungsanreize und Subventionen für Genossenschaften zu streichen, wurden scharf zurückgewiesen. Zusätzlich mussten diejenigen Kräfte bekämpft werden, die die Entwicklung hin zur sozialistischen Landwirtschaft aktiv sabotierten. Im Frühjahr 1960 zogen Mitglieder der Blockparteien und Massenorganisationen über die Dörfer, um mit den noch verbliebenen Einzelbauern zu diskutieren. Beinahe alle entschieden sich für den Eintritt in die LPG – auch wenn sich eine Überzeugung für die genossenschaftliche Arbeit oftmals erst einige Jahre später einstellte. 85 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche wurden nunmehr genossenschaftlich bewirtschaftet.
Die LPG waren eigenständige Wirtschaftseinheiten und kein Zusammenschluss von ansonsten unabhängigen Betrieben. Sie nahmen vielfältige wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aufgaben wahr. Erst durch ihre Zweckbestimmung, ihre Arbeits- und Organisationsweise und vor allem ihre fest integrierte Rolle innerhalb der Planwirtschaft der DDR wurde ihr sozialistischer Charakter eingelöst. Die Vielfachbelastung der Bäuerin und die im Familienbetrieb übliche Kinderarbeit wurden in der LPG aufgehoben. Frauen und Jugendliche wurden zu gleichberechtigten Mitgliedern. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, unabhängig von Alter und Geschlecht, Kindergeld, Urlaub, Krankengeld, Gesundheitsversorgung, geregelte Arbeitszeiten – bislang unvorstellbare Errungenschaften in der Landwirtschaft konnten durch die Genossenschaften ermöglicht werden. Die LPG wurden zum Zentrum der sozialen und kulturellen Entwicklung auf den Dörfern. In Zusammenarbeit mit den Räten der Kreise und Bezirke wurden Straßen und Wohnhäuser gebaut, Bibliotheken und Kulturhäuser betrieben, Kindergärten geschaffen, Sport- und Kulturveranstaltungen organisiert. Ab den 60er Jahren gab es eine sprunghafte Zunahme des Anteils der Beschäftigten mit abgeschlossener Fach- und Hochschulausbildung. Eine regelrechte Bildungsrevolution setzte ein.
Zunehmende Kooperationsbeziehungen zwischen den Genossenschaften und Betrieben der Verarbeitung und des Handels haben die Integration in das Planungssystem der DDR verbessert und bedeuteten eine Annäherung an eine industriemäßige Großproduktion. Die Agrar-Industrie-Vereinigung (AIV) verkörpert diesen Prozess einer institutionalisierten Kooperation wohl am deutlichsten. Die Großproduktion warf einige neue Fragen und Probleme auf. Die später als unzweckmäßig beurteilte Trennung der Tier- und Pflanzenproduktion konnte wieder korrigiert werden. Brigade- und Genossenschaftsversammlungen, Bauernkongresse, Vertretungen in der Nationalen Front, der Volkskammer, den Kreisen und Bezirken – und nicht zuletzt der öffentliche Austausch in Medien – schufen grundsätzlich die Voraussetzungen, Probleme und Widersprüche zu bearbeiten. Ob sie dafür aktiv genutzt wurden, hing, wie so oft, nicht zuletzt von einzelnen Akteuren und leitenden Kadern ab.
Die Landwirtschaftstransformation nach 1990 orientierte auf die Liquidierung der LPG. Sie sollten dem in Westdeutschland vorherrschenden Modell der Familienwirtschaften weichen. Zu dem Zeitpunkt waren 45 Prozent der von den Genossenschaften bewirtschafteten Böden volkseigen. Diese Flächen wurden nach und nach privatisiert. Hier lag ein entscheidender Hebel, um die LPG-Strukturen aufzubrechen. Dadurch, dass ein erheblicher Teil des Bodens allerdings weiterhin Privateigentum der in den LPG zusammengeschlossenen Bauern war, behielten sie Möglichkeiten, um zumindest Teile der LPG unter kapitalistischen Bedingungen fortzuführen. Stetig steigende Pachtgebühren drohen diese Landwirtschaftsstrukturen aber zu zersetzen. Die Strukturveränderungen, die direkt nach 1990 im Eiltempo verordnet wurden, führten zu einer regelrechten Landflucht. Von den zuletzt 923.000 Beschäftigten der Landwirtschaft der DDR wurden bis 1993 743.900 Arbeitskräfte abgebaut – vier von fünf Beschäftigten mussten gehen. Die soziale und kulturelle Infrastruktur wurde zerschlagen. Insbesondere junge und qualifizierte Arbeitskräfte verließen die Dörfer.
Die Bauern waren wieder auf sich allein gestellt. Preisdruck und Marktkonkurrenz brachten existentielle Sorgen zurück. Mit der kapitalistischen Restauration kamen auch die »billigen«, immer häufiger migrantischen Erntehelfer, kam die wachsende Ungleichheit zurück. Boden liegt als Spekulationsobjekt brach, anstatt Lebensmittel zu produzieren. Der Profit ist zum bestimmenden Faktor der Landwirtschaft geworden. »Das Land denen, die es bearbeiten« – das steht heute auch im Osten Deutschlands, wie in weiten Teilen der Welt, unter sehr anderen Vorzeichen als 1945, wieder auf der Tagesordnung.
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