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Aus: 75 Jahre DDR, Beilage der jW vom 02.10.2024
DDR 75

Der vergessene Fortschritt

Eine alte Forderung der Arbeiterbewegung realisiert: In der DDR gab es ein einheitliches Arbeitsgesetzbuch
Von Holger Czitrich-Stahl
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Rechte und Pflichten: Arbeiter einer Brikettfabrik vor einer Wandtafel, die den Leistungsstand der einzelnen Brigaden zeigt (1952)

In Artikel 30 des Einigungsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 31. August 1990 heißt es wörtlich: »Es ist Aufgabe des gesamtdeutschen Gesetzgebers, 1. das Arbeitsvertragsrecht sowie das öffentlich-rechtliche Arbeitszeitrecht einschließlich der Zulässigkeit von Sonn- und Feiertagsarbeit und den besonderen Frauenarbeitsschutz möglichst bald einheitlich neu zu kodifizieren.« Damit stand die Frage nach einem einheitlichen Arbeitsgesetzbuch im Raum. Die Chance, hier eine alte Forderung der Arbeiterbewegung endlich im Interesse der abhängig Beschäftigten in ganz Deutschland zu verwirklichen, war also theoretisch gegeben – aber daraus wurde nichts.

Im Gegenteil: Immer wieder versuchen Unternehmen mit Unterstützung von gewerkschaftsfeindlichen Juristen, Rechte der Beschäftigten und ihrer Interessenvertretungen auszuhöhlen. Der sozialdemokratische Sozialpolitiker Rudolf Dreßler schrieb im Jahr 2019, »das Prinzip, Arbeitsrecht ist Recht, darf nicht entsorgt werden. Es ist nicht von gestern, sondern immerwährend aktuell. Gestern, heute und auch morgen.«

Gesetzbuch der Arbeit

Dass die DDR seit 1978 ein eigenes einheitliches Arbeitsgesetzbuch besaß, ist heute weitestgehend vergessen. Es galt für sämtliche Unternehmensformen und Eigentumsverhältnisse der DDR, soweit keine abweichenden Rechtsvorschriften existierten. Damit knüpfte die DDR an alte Forderungen der Arbeiterbewegung an. So hieß es im Görlitzer Programm der SPD von 1921 kurz und bündig: »Einheitliches Arbeitsrecht«. Im Heidelberger Programm von 1925 forderte die Sozialdemokratie »selbständige Arbeitsgerichte, die losgelöst sind von der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Einheitliches Arbeitsrecht.« Dies deckte sich mit Artikel 157 der Weimarer Reichsverfassung, in dem es hieß: »Das Reich schafft ein einheitliches Arbeitsrecht.« Doch mit der Errichtung der faschistischen Diktatur 1933 und dem »Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit« 1934 waren alle – reformistischen und revolutionären – Versuche der Arbeiterparteien und Gewerkschaften gescheitert, Arbeiterrechte auf Dauer zu sichern.

Nach der Befreiung vom Faschismus am 8. Mai 1945 standen zunächst grundlegendere Aufgaben des politischen und gesellschaftlichen Wiederaufbaus im Vordergrund. Aber mit den unterschiedlich eingeschlagenen Entwicklungswegen in den Westzonen bzw. der Bundesrepublik bahnten sich auch in Fragen des Arbeitsrechts unterschiedliche Perspektiven an. In der Bundesrepublik befand sich das Arbeitsrecht im antagonistischen Konflikt mit dem Privatrecht als Kern der bürgerlichen Eigentumsordnung. Die private Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel konnte nur mit den Kollektivrechten der Koalitionsfreiheit und des Streikrechts eingeschränkt werden, so widerspiegelte das Arbeitsrecht die Klassenauseinandersetzungen im westdeutschen Staat.

Die bürgerlichen Parteien und die konservative Rechtsprechung besaßen keinerlei Interesse an einem eigenständigen Arbeitsgesetzbuch, so blieb es bei den meisten arbeitsrechtlichen Fragen beim Richterrecht, das in vielen Fällen die Gewerkschaften und die Beschäftigten benachteiligte. Wolfgang Abendroth schrieb bereits 1956 zur Praxis des 1. Senats des Arbeitsgerichts unter Vorsitz von Carl Nipperdey, Kommentator des erwähnten Nazigesetzes, dass dessen Rechtsprechung jener Klassenjustiz entspreche, die schon in der Weimarer Republik die Demokratie untergrub. An der Praxis der Bevorzugung der Unternehmerseite zu Lasten der Beschäftigten durch die Arbeitsgerichte hat sich bis heute nichts geändert. Ein einheitliches Arbeitsrecht, kodifiziert in einem einheitlichen Arbeitsgesetzbuch, das die Rechte der Beschäftigten eindeutig formuliert und garantiert, ist politisch und juristisch ferner denn je. Von allen Funktionen des bundesdeutschen Arbeitsrechts – Verrechtlichung der Konflikte zwischen Kapital und Arbeit, Integration und Domestikation der Arbeiterschaft, Disziplinierung – überwogen in der Rechtsprechung der Bonner wie der Berliner Republik die beiden letzteren. Davon zeugen die vielfältigen Versuche, die Arbeit von Betriebsräten zu behindern oder das Streikrecht zu unterlaufen.

Anders verlief die Entwicklung in der DDR. Dem Arbeitsgesetzbuch von 1978 gingen zwei Vorläufer voraus: das »Gesetz der Arbeit zur Förderung und Pflege der Arbeitskräfte, zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und zur weiteren Verbesserung der materiellen und kulturellen Lage der Arbeiter und Angestellten«, das am 1. Mai 1950 in Kraft trat, und das »Gesetzbuch der Arbeit der Deutschen Demokratischen Republik« vom 12. April 1961. Am 16. Juni 1977 wurde das neue Arbeitsgesetzbuch im Gesetzblatt der DDR veröffentlicht und trat mit dem 1. Januar 1978 in Kraft.

Grundfragen geregelt

Sein erster Satz definierte den gesellschaftspolitischen Hintergrund und die Perspektive des AGB. »In der Deutschen Demokratischen Republik wird die entwickelte sozialistische Gesellschaft gestaltet und werden grundlegende Voraussetzungen für den allmählichen Übergang zum Kommunismus geschaffen.« Die politische Macht werde von den Werktätigen in Stadt und Land ausgeübt und beruhe auf dem gesellschaftlichen Eigentum an den Produktionsmitteln und auf der Herrschaft sozialistischer Produktionsverhältnisse, hieß es nachfolgend. Im ersten Kapitel wurden die Grundsätze des sozialistischen Arbeitsrechts formuliert, nämlich die Garantie der verfassungsmäßigen sozialen Grundrechte. Hierzu zählten das Recht auf Arbeit, auf Mitbestimmung und Mitgestaltung, auf gerechten Lohn, auf Gesundheits- und Arbeitsschutz, auf kulturelle Teilhabe und auf umfassenden Schutz bei Alter und Invalidität. Insgesamt sollten durch das Arbeitsrecht die schöpferische Initiative, das ehrenamtliche Engagement und die planmäßige Entwicklung der Arbeits- und Lebensbedingungen der arbeitenden Menschen gefördert und gestaltet werden. Prinzipien wie »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung« oder die allseitige Entwicklung der sozialistischen Persönlichkeit und der sozialistischen Lebensweise beschrieben hier eine ehrgeizige Zielstellung.

Im Gegensatz zur Bundesrepublik, wo die Gewerkschaften keinen direkten Einfluss auf die Betriebsabläufe hatten und nur über die Betriebsräte wirksam werden konnten, besaß gemäß AGB der DDR der FDGB weitgehende Mitwirkungs- und Gestaltungsrechte. Natürlich war auch die Reichweite ihrer Wirksamkeit abhängig von den Vorgaben der Wirtschaftspläne. Aber ihr formaler Rechtsstatus reichte allein wegen ihrer Verantwortung für die Kontrolle des Arbeitsschutzes und für die Sozialversicherung über eine reine »Tarifpartnerschaft« weit hinaus.

Im AGB der DDR wurden sämtliche Grundfragen von Löhnen und Prämien und den Arbeitszeiten geregelt. So galt prinzipiell, dass die 40-Stunden-Arbeitswoche an fünf Arbeitstagen zu realisieren sei. Frauen, Jugendliche und Erwerbsgeminderte wie auch Opfer des Faschismus sollten besonders gefördert werden. Sämtliche Fragen der Arbeitswelt fanden ihren Niederschlag im AGB der DDR. In dessen 16. und 17. Kapitel wurden die Kontrolle der Einhaltung des Arbeitsrechts sowie die Regelung von Streitfällen auf allen Ebenen geregelt. Allerdings: Arbeitsniederlegungen und Streiks waren nicht Bestandteil des AGB.

Mit der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands erlosch die Gültigkeit des AGB als Ganzes. Völlig zu Recht hob das DGB-Grundsatzprogramm von 1996 hervor, dass arbeits- und sozialrechtliche Mindeststandards in Europa unverzichtbare Bestandteile einer europäischen Sozialstaatlichkeit sein müssen. Wenn heute definiert werden muss, wie ein soziales Europa aussehen könnte, lohnt sich ein prüfender Blick in dieses vergessene Dokument des Fortschritts von 1978.

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