Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Aus: 75 Jahre DDR, Beilage der jW vom 02.10.2024
DDR 75

Ständig im Visier

Die Bourgeoisie und ihre Parteien: Erinnerungen an drei Jahrzehnte Parteiengeschichtsforschung in Jena
Von Manfred Weißbecker
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Gelacht wurde auch: Humoristische Sonntagsuniversität mit Studenten der Universität Jena (Januar 1982)

Am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena entstand während der 1960er Jahre ein zweibändiges Handbuch, danach von 1982 bis 1986 das vierbändige »Lexikon zur Parteiengeschichte 1789–1945. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland«. Es gab anerkennendes Lob – ausgesprochen auch von einigen Historikern der alten Bundesrepublik. Der DDR und ihrer Geschichtswissenschaft wenig freundlich Gesinnte lehnten zwar unsere Grundpositionen ab, doch es überwog die sachbezogene Auseinandersetzung. Das änderte sich schlagartig mit der sogenannten Wende von 1989/90. Inzwischen werden, von Ausnahmen abgesehen, Handbuch und Lexikon kaum noch zur Kenntnis genommen.

Die Jenaer Parteiengeschichtsschreibung erfolgte nach epochenübergreifenden und gesamtgesellschaftlichen Kriterien. Parteien erschienen uns hauptsächlich geprägt zu sein durch klar bestimmbare Interessen, vor allem ökonomischer, sozialer, militärischer und politischer Natur. Immer waren sie einzuordnen in jeweilige Entwicklungsprozesse der bürgerlichen Gesellschaft. Den an unsere Adresse gern, zumeist jedoch leichtfertig erhobenen Vorwurf, marxistisches Geschichtsdenken sei ökonomistisch und reduktionistisch, hielten wir stets für unberechtigt. Uns ging es um den Versuch, Wechselbeziehungen und Zusammenhänge aller wesentlichen geschichtswirksamen Faktoren zu beleuchten. Vulgärmaterialismus war uns fremd.

Das zweibändige Handbuch enthielt 217 Artikel und besaß hohen Informationswert, auch wenn einzelne Charakterisierungen von Parteien, Verbänden, Bünden und Vereinen mitunter etwas grob gestrickt wirkten. Die jeweiligen sozialökonomischen Zuordnungen ließen dennoch Spielraum für das Wirken politisch-ideologischer und geistig-kultureller Kräfte. Nach der Rolle subjektiver Faktoren wurde an Beispielen von Parteiführern gefragt. Im Schritt zum vierbändigen Lexikon, das nahezu 350 Beiträge über bürgerliche und kleinbürgerliche Organisationen umfasste und weit über den Kreis hauptsächlich agierender politischer Parteien hinausging, spiegelten sich wesentliche Fortschritte sowohl in der Professionalisierung unseres Handwerks als auch in theoretisch-methodologischer Hinsicht.

Es beteiligten sich 70 Autoren aus vielen geschichtswissenschaftlichen Einrichtungen der DDR. Gefordert war, nach unerschlossenen Quellen in Archiven und Bibliotheken zu suchen, in letzteren vor allem nach internen Informationsblättern von Partei- und Verbandsführungen. Nahezu alle Artikel lassen gediegene Kenntnis von Archivbeständen sowie der Publikationen aus beiden deutschen Staaten erkennen. Beim Schreiben orientierten wir auf ein hohes Maß an Sachlichkeit. Der Marburger Historiker Georg Fülberth analysierte 2007 die »Jenaer Schule der Parteienforschung« und meinte, wir hätten »zu den besten Beispielen einer sich auf den Marxismus-Leninismus berufenden Quellen- und Literaturgelehrsamkeit« gehört. Sein Urteil hingegen, wir hätten »einen wichtigen Beitrag zur gesamtdeutschen Wissenschaftskultur geleistet«, entspricht kaum der westdeutsch geprägten Realität.

In unserem Arbeitsprozess rankten sich nahezu endlose Debatten um den Nachweis, ob es sich jeweils bei den untersuchten Organisationen um Interessenvertreter von monopolistischen und nichtmonopolistischen Teilen der Bourgeoisie bzw. um Organisationen mittelständischen oder kleinbürgerlichen Charakters handelt. Eigengesetzlichkeiten und Eigendynamik des Forschungsgegenstandes waren zu berücksichtigen. Die Bezeichnung »bürgerlich« erschien uns zwar als sehr summarisch, die jedoch berechtigt sei, weil ihr alle Parteien und Verbände zuzuordnen sind, die – eine Formulierung Lenins aufgreifend – »auf dem Standpunkt des Kapitalismus« stehen. Als ausschlaggebendes Kriterium galt ihre Stellung zu Militarismus, Faschismus und Krieg. Deutlicher als zuvor verfolgten wir hauptsächliche Entwicklungslinien und -etappen bestimmter Parteitypen entsprechend der kontinuierlich wirkenden politisch-ideologischen Grundströmungen in der deutschen Gesellschaft. Großen Raum nahm ein, wie einzelne bürgerliche Parteien sich in der Weimarer Republik gegenüber der NSDAP verhielten, wie sie sich in der Zeit der Weltwirtschaftskrise selbst nach rechts entwickelten, wie sie antifaschistisches Wirken anderer Organisationen maßgeblich behinderten. Aus Untersuchungen zu völkisch-rassistischen und faschistischen Organisationen ergab sich neben der Analyse von Parteien auch eine Faschismusforschung.

Generell verfolgten wir die mit empirischem Material belegte These, dass sich die »Massen« ständig im Visier der Parteien befinden. Hatten wir anfänglich die Parteien als ein Bindeglied zwischen dem Staat und dem Apparat der ökonomisch Mächtigen zu fassen gesucht, geriet mehr und mehr in das Blickfeld, nach Möglichkeiten und Grenzen des Suchens bürgerlicher Parteien nach einem Massenanhang bzw. nach generellem Einfluss auf immer größere Teile der Bevölkerung zu fragen. Ich denke, es ist immer noch richtig, eine geschichtliche Aufgabe bürgerlicher Parteien u. a. darin zu sehen, dass sie in ihren Reihen und unter möglichst vielen Menschen alles das abschwächen wollen, was kapitalistischer Herrschaft entgegenzustehen scheint, und alles das zu stärken, was diese zu festigen vermag – so formuliert im 1987 erschienenen Heft 39 der »Jenaer Beiträge zur Parteiengeschichte«.

Eine große Rolle spielten Fragen nach dem Verhältnis von Kontinuität und Wandel im Erscheinungsbild der Parteien sowie im gesamten Parteienwesen. Beständigkeit und Veränderbarkeit in den Erscheinungsformen bürgerlicher Parteien entsprechen ihren Funktionen innerhalb Herrschaftsmechanismen und können helfen, zu erklären, was den Parteien reale Machtausübung ermöglicht. Alle Parteien miteinander zu vergleichen, also das Parteienwesen in Gänze, in seiner Wirkung auf alle einzelnen Bestandteile sowie in ihrer Entwicklung zu untersuchen, halte ich nach wie vor für erforderlich, wie überhaupt die Geschichte jeder politischen Partei zugleich eine Geschichte der für das Parteienwesen gesetzten Rahmenbedingungen darstellt. Darin lag gewiss auch einer der Gründe für den seit Mitte der 80er Jahre in Jena unternommenen Versuch, von einer überwiegend erfolgreich betriebenen Parteiengeschichte zur Erforschung eines Phänomens überzugehen, das wir als »politische Organisation der bürgerlichen Gesellschaft« definierten und in der DDR-Geschichtswissenschaft zur Diskussion stellten.

Dieter Fricke, der das Herausgeberkollektiv leitete, verstand darunter eine über das Parteienwesen hinausreichende Gesamtheit von Institutionen und Organisationen, in denen sich das politische Leben der bürgerlichen Gesellschaft vollziehe. Es gelte, nicht nur die einzelnen Elemente politischer Macht zu untersuchen, sondern diese auch in ihrer gegenseitigen Bedingtheit und Wechselwirkung sowie mit ihren jeweiligen Veränderungen zu erfassen. Allerdings stellte sich heraus, dass sich dies nicht allein im Rahmen geschichtswissenschaftlicher Analysen erreichen lässt – es wäre eine interdisziplinäre Arbeit mit Soziologen, Staats- und Politikwissenschaftlern und auch mit Psychologen erforderlich gewesen. Wir sahen deren Notwendigkeit, ohne wahrscheinlich ihre Tragweite begriffen zu haben.

Hätte es 1989/90 nicht den Anschluss der DDR an die BRD sowie eine rigorose Vernichtung marxistisch orientierter Lehr- und Forschungsstätten gegeben, zu welchem Ende wäre wohl die Jenaer Parteiengeschichtsforschung gekommen? Diese Frage zu stellen heißt sogleich, müßig spekulieren zu wollen. Aber wie dem auch sei: Kritik ist zu üben an den Parteien, deren Streben und Wirken auf den Grundlagen kapitalistischer Wirtschaft und Gesellschaft beruhen und die der Erhaltung bestehender Macht- und Eigentumsverhältnisse dienen. In diesem Sinne wäre von allen Kritikern eine Parteien- und Gesellschaftstheorie als Grundlage ihres antimilitaristischen und antifaschistischen, also letztlich antikapitalistischen Ringens zu suchen. Darin bestand insbesondere eine Aufgabe jener sich leider selbst zerstörenden Partei, die als PDS bzw. als Die Linke angetreten war, der deutschen Gesellschaft eine sozialistisch-demokratische Alternative zu bieten.

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