Nicht nur eine Floskel
Von Heinz NiemannZum Narrativ bei Erklärungsversuchen der Wahlergebnisse in Ostdeutschland gehört der Hinweis, dass mindestens zwei DDR-Generationen durch die SED-Diktatur sozialisiert wurden und dadurch »demokratieunfähig« sind. Das 1990 erkämpfte demokratische Recht auf freie Wahlen werde nun genutzt, um »falsch« zu wählen. Darin steckt – wahrlich ungewollt – ein wahrer Kern.
Zweifellos trug das System im Osten Deutschlands unleugbar Züge einer Entwicklungs- und Erziehungsdiktatur. Das war nach 12 Jahren faschistischer Indoktrination und angesichts der schrecklichen Folgen des Krieges sowie der Belastungen durch Reparationen, des bald ausbrechenden Kalten Krieges usw. gar nicht anders möglich. Zudem ging es nicht um den Wiederaufbau eines alten zerstörten Staates und Systems – es sollte ein Neubau, eine andere Gesellschaft gestaltet werden. Das ist misslungen, und die Auseinandersetzungen in der Endphase mit dem Ziel, dies zu korrigieren, kamen zu spät und scheiterten. Geblieben ist aber ein zutiefst demokratisches Empfinden, das sich in einer Losung kristallisierte, die niemals in Westdeutschland, wo die Demokratie ihren Hort gehabt haben soll, geboren worden wäre: »Wir sind das Volk«.
Es könnte sein, dass das heutige »Fehlverhalten« in den neuen Bundesländern durch solche Erinnerungen mitverursacht wird, weil im Bewusstsein oder Unbewussten dieser Menschen Erinnerungen und Erfahrungen mit anderen Formen von Demokratie fortleben, mögen sie noch so unvollkommen und bescheiden gewesen sein. Eine allgemeine Erfahrung in der DDR war die, dass die Oberen reagierten, wenn das Volk maulte. Über Preiserhöhungen (zum Beispiel beim »Wartburg« oder bei geplanten, sehr bescheidenen Mieterhöhungen) zum Beispiel. Unzählige Eingaben bis hoch zum Staatsrat, die gleichsam an die Stelle einer erst 1988/89 vorgesehenen Verwaltungsgerichtsbarkeit traten, fanden Gehör und hatten – wie das Archivmaterial belegt – häufig ein positives Ergebnis.
Dazu kamen die sehr zahlreichen Mitsprachemöglichkeiten in Kommissionen, Räten und Beiräten. Zumindest bis zur Ministerebene war die DDR eine »Rätedemokratie«. Ohne Räte glaubten nur die Obersten auszukommen – was schließlich in Ratlosigkeit endete.
Umfragen des zwischen 1965 und 1978 bestehenden Instituts für Meinungsforschung lieferten zum realen Entwicklungsstand und über Probleme der sozialistischen Demokratie viel Material. »Plane mit, arbeite mit, regiere mit« war nicht nur eine Floskel. Eine Umfrage vom Februar 1967 in zehn Betrieben im Bezirk Halle mit der Frage an die Arbeiter, ob sie Einsicht in die geplanten Maßnahmen zur Rationalisierung hatten, ergab ein Ja von 58,5 Prozent. 23,8 Prozent bejahten die Frage, ob sie an der Ausarbeitung teilgenommen hätten. Ebenfalls 1967 wurde in sieben Bezirken in jeweils einem Betrieb unter anderem nach dem Bekanntheitsgrad der zuständigen Abgeordneten in der Volkskammer und der Bezirksvertretung, der Wirksamkeit ihrer Tätigkeit und der Erfüllung der Pflicht zur Rechenschaftslegung gefragt. Die bejahenden Antworten schwankten jeweils um die 35 Prozent. Immerhin 56,6 Prozent der Befragten in den Betrieben wollten sich bei ungelösten Problemen an die Abgeordneten wenden.
Für die knappe Zeitspanne, in der über eine Entwicklung sozialistischer Demokratie überhaupt zu reden ist, müssen entscheidende Bedingungen und Imponderabilien berücksichtigt werden. Zum ersten gab es kein theoretisches Konzept als orientierende Leitlinie für die praktische gesellschaftliche Gestaltung, für die Struktur und das Funktionieren einer solchen, völlig neuartigen Regierungsform. Diese Herrschaft hatte zunächst den Makel, nur eine geschenkte Macht zu sein, und das nur an eine Minderheit mit eingeschränkten Befugnissen.
Da half das »Kommunistische Manifest« mit seiner Feststellung, die Revolution durch das Proletariat sei identisch mit der Eroberung der Demokratie, nicht weiter. Auch die Pariser Kommune war nur ein sehr bedingtes Vorbild und vermittelte wenige Erfahrungen, nachdrücklich noch die, dass die herrschende Klasse rücksichtslos mit militärischer Gewalt gegen sie vorging. Auch die auf Lenin zurückgehende Definition der Diktatur des Proletariats und sein Verständnis davon, dass dieser Herrschaft der Mehrheit des Volkes die Entwicklungstendenz eigen sei, zu mehr Demokratie zu führen, half nicht. Das unter anormalen Bedingungen entstandene Sowjetmodell, das dann zum verbindlichen Grundmodell erklärt wurde, hinderte mehr als zu helfen, zielgerichtet und sicher zu einem demokratischen Sozialismus zu kommen.
In den 60er Jahren aber, mit einem Partei- und Staatschef, der nicht allein von Marx und Lenin geprägt war und Stalins Diktatur erlebte, sondern auch Erfahrungen mit der bürgerlichen Demokratie von Weimar gemacht hatte, gab es Ansätze zur zügigen Entwicklung neuer Formen der Demokratie in einem Staat, der sich hinter sicheren Grenzen mit deutlicher Reduzierung seiner Repressionsrolle und mit einer weitgehend volkseigenen Wirtschaft entwickeln konnte. Das Neue Ökonomische System schuf neue Voraussetzungen für die demokratische Entwicklung und erforderte zugleich das deutlich engere Zusammenwirken von zentraler institutioneller Macht und Masseninitiative, von Bildung und fachlicher wie politischer Qualifikation. Die Verbindung von zentraler Planung und Leitung mit eigenverantwortlicher Planung und Leitungstätigkeit im Betrieb, im Territorium durch die betrieblichen und örtlichen Organe waren Ausdruck neuer Formen der Demokratie. Ab 1961 nahmen ehrenamtliche Konflikt- und Schiedskommissionen neben bisherigen arbeitsrechtlichen nun sogar kleinere Fälle kriminalgerichtlicher Art wahr. Wichtige Gesetze wurden im Entwurf zur öffentlichen Diskussion vorgestellt.
In die Vorbereitung von Wahlen, nach 1990 gerne als »Zettelfalten« diffamiert, wurden nun ständig mehr Menschen – bei Volkskammerwahlen bis zu drei Millionen – einbezogen. Die umfängliche, von den Organen der in der Nationalen Front vereinigten Parteien organisierte Vorbereitung von Wahlen durch Wählerversammlungen, wo mehr Kandidaten als Abgeordnetenplätze vorgestellt und einer Prüfung unterzogen wurden, spielten eine zunehmend wichtigere Rolle als der Wahlakt.
Diese Entwicklung fand ihren eindrucksvollsten Niederschlag in der Vorbereitungsphase für die neue Verfassung der DDR. Walter Ulbricht war nach und nach zu der Ansicht gekommen, dass die der Regierung und den gewählten Vertretungen auf allen Ebenen übergeordnete Entscheidungsbefugnis des hauptamtlichen Parteiapparats nicht mehr den Erfordernissen der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung entsprach, ja selbst auf wichtigen Gebieten zum Hemmnis wurde. Man kann vermuten, dass schon 1960 bei der Abschaffung des rein repräsentativen Präsidentenamtes der neu geschaffene Staatsrat nicht nur mit weitgehenden Rechten ausgestattet wurde, sondern bewusst als von der Volkskammer zu wählendes kollektives Staatsoberhaupt mit einem Vorsitzenden, Stellvertretern aller fünf Parteien und 16 Mitgliedern gebildet worden war.
Mit einer neuen Verfassung sollte endgültig klargestellt werden, dass die DDR kein Provisorium ist und sich auf einer neuen verfassungsrechtlich garantierten Grundlage zu einem demokratischen Staat des ganzen Volkes entwickelt. Auch gegen Moskauer Einwände machte die Verfassung auf den fortbestehenden gesamtdeutschen Anspruch der DDR aufmerksam, indem sie ihn als einen »sozialistischen Staat deutscher Nation« definierte. Dieser gesellschaftliche und nationale Anspruch erforderte natürlich eine hohe Wahlbeteiligung und Zustimmung beim Wahlvolk.
Bereits im Vorfeld hatte das Institut für Meinungsforschung ermittelt, wie wirksam die Werbung für den Verfassungsentwurf war. Eine Kampagne mit rund 750.000 Versammlungen in Städten und Gemeinden, an denen Millionen von Bürgern teilnahmen, wurde organisiert. 12.454 Veränderungsvorschläge an die Verfassungskommission bewiesen das hohe Interesse. An 66 der 108 Verfassungsartikel wurden daraufhin noch Veränderungen vorgenommen. Dem Artikel 2 (»Alle politische Macht in der DDR wird von den Werktätigen ausgeübt«) stimmten 66 Prozent zu. Die um 20 Prozentpunkte höhere Zustimmung zur gesamten Verfassung erklärt sich daraus, dass vielen Abstimmenden andere Verfassungsrechte (Recht auf Arbeit, Bildung, kostenfreie Gesundheitsvorsorge, Gleichheitsgrundsatz, das Recht der Gewerkschaft auf Einbringung von Gesetzen) wichtiger waren.
Der am 6. April 1968 stattfindende Volksentscheid war und ist ein einmaliges Ereignis in der Geschichte Deutschlands. Die Aktivitäten zur Propagierung des Entwurfs zahlten sich – auch infolge der Verbesserungen des Lebensstandards bei einer Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung – in einem überzeugenden Plebiszit aus. Bei einer Wahlbeteiligung von 98,5 Prozent, die ohne Nötigungen, fliegende Urnen oder Hausbesuche erreicht wurde, stimmten 94,49 Prozent mit Ja und 409.733 mit Nein. Es dürfte wohl keinen Staat auf der Welt geben, bei dem es nicht einen größeren oder zumindest kleineren Spalt zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit gibt. Wie weit im Bewusstsein oder im Unbewussten vieler ostdeutscher Frauen und Männer dieser Spalt auch gewesen sein mag, es gibt offensichtlich ausreichend Gründe und alte wie neue Erfahrungen, diese untergegangene Deutsche Demokratische Republik in vieler Beziehung als den besseren deutschen Staat zu betrachten.
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