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Aus: 75 Jahre DDR, Beilage der jW vom 02.10.2024
DDR 75

Überhitzter Krisengenerator

Nur »unsere eigenen Fehler«? Die multiplen Krisen am Ende der DDR
Von Stefan Bollinger
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Eine Ahnung von den kommenden Dingen: Arbeiter in einem Betrieb in Berlin-Marzahn (Dezember 1989)

Viele wussten 1989, dass es eine politische Krise ist, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen. Ein letztes Mal beriefen sich viele Leute auf Lenin. Noch segelte Gorbatschows Perestroika unter dem Banner eines wiederbelebten Lenin, und selbst die SED-PDS bekannte sich damals zum Leninschen Erbe. Lang ist es her. Es war eine Zeit, in der die DDR, ihre Verbündeten und die Führungsmacht Moskau tief in mehreren Krisen steckten. Da war die gesellschafts- und wirtschaftsstrategische Krise, die auch aus dem Verzicht auf eine radikale Wende hin zu einer wissenschaftlich-technischen Revolution der neuen Produktivkräfte resultierte. Hier hatte einst die Parteispitze das vielversprechende Reformprojekt NÖS aus Angst vor unbeherrschbaren Führungsproblemen abgeblockt.

Das Scheitern an einer notwendigen Weiterentwicklung der Ökonomie ging einher mit einer Krise des geführten politischen Systems, das um die »führende Rolle« der SED herumgebaut worden war. Eine Gesellschaft, die die Nachkriegszeit hinter sich gelassen hatte, stand vor der Notwendigkeit einer differenzierten Interessenartikulation, des Aushandelns von Kompromissen, der demokratischen Rückkopplung mit Organisationen und Parteien, die eben nicht nur nach Pfeife der SED tanzten. Die Grundlagen des Anspruchs, eine sozialistische Gesellschaft zu errichten, wankten. Ein wirkliches Krisenmanagement und erlebbare Reformen fehlten allerdings.

Spezifische Krise

Zu diesem Krisenmix gehört auch die Krise in genau dieser Blockkonfrontation, wo es einerseits aus dem Begreifen der Gefahren dieser Konfrontation im Zeichen des nuklearen Hoch- und Wettrüstens eine gewisse Entspannung gab – es ergab sich die Chance auf Kontroll- und Reduzierungsmaßnahmen. Aber gleichzeitig mangelte es an der Einsicht, dass diese Deeskalation einherging mit einer Verschärfung des Kampfes um Herzen und Hirne, einer wachsenden – obschon noch limitierten – Reisetätigkeit, aber vor allem dadurch, dass immer stärker die westliche Lebensweise Bedürfnisse definierte.

Diese bereiteten sich im Grunde seit den ausgehenden 1960er Jahren vor. Sie stellten die kommunistische Weltbewegung, aber durchaus auch die Sozialdemokratie und generell die politische Linke vor Probleme. Mit der Krise des mittel- und osteuropäischen Sozialismus wurden hüben wie drüben Karten neu gemischt, und im weitesten Sinne linke Gegenbewegungen gegen Kapitalismus und Imperialismus mussten sich neu definieren und formieren – oder hätten das tun müssen.

Innergesellschaftlich lief der Krisengenerator für die DDR in den 1980er Jahren heiß. Da waren die Probleme der Volkswirtschaft mit ihren teils verschlissenen Produktionsanlagen, die (aus heutiger Sicht lächerliche) Auslandsverschuldung und die Innenverschuldung. Beides eigentlich unproblematisch – aber die DDR wurde politisch erpressbar. Gemessen an der Erfolgsgeschichte der 1960er und 1970er Jahre brachte die Volkswirtschaft nicht mehr die Leistungen, die die Bürger erwarteten, sie sahen Stagnation, Versorgungslücken, zerfallende Innenstädte, Versäumnisse der Umweltpolitik.

Zugleich entwickelte sich eine spezifische politische Krise, die durch mehrere parallele Prozesse gekennzeichnet war. Insbesondere unter dem Dach der Kirche entwickelte sich eine heterogene Opposition der Bürgerbewegungen, die nach außen hin zunächst eindeutig auf eine verbesserte DDR ausgerichtet war. Wiedervereinigung oder Reisefreiheit spielten kaum eine Rolle. Diesen Kräften wurde aber zunächst der Dialog verweigert, während Republikfluchten und Ausreisen vor allem jüngerer, gut ausgebildeter Menschen massiv zunahmen, Lücken in Arbeitskollektive gerissen wurden und Partei und Staat letztlich ohnmächtig daneben standen. In dieser Situation wurden Unregelmäßigkeiten und Wahlfälschungen bei den Kommunalwahlen im Mai 1989, obwohl Oppositionelle ganz legal deren Überwachung ankündigten, zur Triebfeder der Krise. Die SED-Führung schwieg.

Lenin hatte gewarnt: »Niemand und nichts kann uns zu Fall bringen, außer unseren eigenen Fehlern.« Die wurden 1989 reichlich gemacht. Die Führung reagierte zu spät, die Parteibasis musste sich selbst orientieren. Erst ganz spät wurde durch eine neue Führung auf Partei- und Gesellschaftsreformen gesetzt. Die Oppositionsbewegung blieb hin- und hergerissen, einige versuchten durchaus, gemeinsam mit reformorientierten Kräften in der SED einen Weg zu finden. Die echte Koalitionsregierung unter Hans Modrow kam aber zu spät. Der vermeintliche große Reformer in Moskau ließ seine Verbündeten, auch in der DDR, wie eine heiße Kartoffel fallen und gab die DDR preis.

Als eine selbständige DDR nicht mehr zu haben zu sein schien, gab es kein Vertrauen mehr in eine vage Reformallianz von Bürgerbewegungen und Reformsozialisten. Erhebliche Teile der Bevölkerung orientierten sich um und nahmen ein westdeutsch geprägtes Gesamtdeutschland in Kauf. Darüber zu hadern ist müßig, die Rahmenbedingungen waren klar. Die bipolare Welt löste sich mit dem Ausfall Moskaus auf, der Westen, die USA und ihr bundesdeutscher Partner setzten auf eine unipolare Welt, in der sie das Sagen haben würden.

Lenin hätte vielleicht geraten, dass unter den Bedingungen einer belagerten Festung die Einheit und Geschlossenheit A und O eines erfolgreichen Kampfes sind. Und das hätte nicht bedeutet, diese Einheit repressiv herzustellen, sondern durch flexible Politik die Massen zu gewinnen oder zurückzugewinnen. Über die Krise der DDR zu reden bedeutet zweierlei: Zu begreifen, dass die DDR nur ein – wenn auch wesentlicher – Mosaikstein der bislang halbwegs geschlossenen und von Moskau geführten Staatengemeinschaft war. Die Krisen in Polen, Ungarn, vor allem aber in der Sowjetunion mit dem Aufbrechen nationaler Konflikte und dem Verfall der kommunistischen Partei konnten an der DDR nicht spurlos vorbeigehen, auch wenn die SED-Führung sich schlauer dünkte. Nur, »das Leben« hatte auch hier längst Gewissheiten erschüttert, ja teilweise zerstört.

Kapitalistische Verhältnisse

Zumal Bonn die Krise aktiv anheizte. Die BRD-Auslandsvertretungen wurden als Ziel unzufriedener DDR-Bürger in Szene gesetzt, die dank des BRD-Rechts dort – im Unterschied zu allen heutigen Asylsuchenden – sofort als Bundesbürger begrüßt wurden. Es ist an die politische, diplomatische und geheimdienstliche Vorarbeit für das »paneuropäische Picknick« wie auch die Flüchtlingslager um die BRD-Botschaften in Prag und Budapest zu erinnern, wo vermeintlich Malteser, in Wirklichkeit oft bundesdeutsche Beamte, halfen. Vor allem aber funktionierten Westmedien und -politiker als Resonanzböden für die Forderungen der Bürgerbewegungen und der Montagsdemonstranten. Insofern war die Öffnung der Mauer am 9. November nicht nur der Thermidor für eine als »antistalinistisch« angetretene Revolution von Bürgerbewegten, SED-Reformen und politisierten Bürgern, sondern das Signal für den Übergang zur offenen bundesdeutschen Einflussnahme auf die DDR-Innenpolitik.

Es stand nicht mehr ein demokratischer Sozialismus auf der Tagesordnung, sondern das Angebot, bundesdeutsche, also kapitalistische Verhältnisse – natürlich ohne ihre Schattenseiten – in der Noch-DDR und im schnell zu schaffenden Gesamtdeutschland einzuführen. Und es ging Bonn wie Washington um Tempo, denn noch sorgte man sich, ob man es sich in Moskau anders überlegen könnte. Über die Krise der DDR und des Ostblocks zu reden heißt auch – bei Berücksichtigung aller Unterschiede – darüber nachzudenken, warum die Entwicklung in China anders lief, warum Rahmenbedingungen für einen chinesischen Sozialismus geschaffen wurden, der jene Systemkrisen, die die Sowjetunion und die osteuropäischen sozialistischen Länder in die Knie zwangen, überwunden hat. Es ist auch die Erinnerung daran, dass Staaten wie China, Kuba, Vietnam, die eigene Revolution und Bürgerkrieg durchmachten, die Zeitenwende damals überstanden haben.

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