75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Donnerstag, 21. November 2024, Nr. 272
Die junge Welt wird von 2993 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Literatur (Buchmesse Frankfurt), Beilage der jW vom 16.10.2024
Literatur

Geister im Souterrain

Verlust des Gleichgewichts: Andrew O’Hagans Roman »Caledonian Road« über einen erfolgsverwöhnten Professor im London der Gegenwart
Von Kerstin Cornils
lit3_online.jpg

Auch wenn es südlich der Themse nicht jeder hören mag: Mit Fug und Recht kann heute behauptet werden, dass der Stadtteil King’s Cross Londons eigentliches Herz ist. Keineswegs war das immer so. Zwar zieht sich die Funktion von King’s Cross als Knotenpunkt für das britische Königreich wie ein roter Faden durch die Jahrhunderte, schließlich laufen hier wichtige Handelsrouten in Gestalt von Straßen, Kanälen und Eisenbahnen wie ein Knäuel zusammen. Doch als nach dem Zweiten Weltkrieg eine allmähliche Deindustrialisierung einsetzt, nistet sich im Viertel Prostitution und Verfall ein. Mit dem Einzug der Eurostar-Verbindung wandelt sich der Stadtteil erneut: Aus den verfallenden Warenspeichern werden Restaurants und Cafés, im Gasometer entstehen Luxuswohnungen. Einen bloßen Katzensprung entfernt beginnt die Caledonian Road, ein Gemisch aus abgeschabten Wohnblocks und viktorianischen Villen. Ihr hat der 1968 in Glasgow geborene Andrew O’Hagan seinen gleichnamigen Roman »Caledonian Road« gewidmet.

Seite um Seite sprudeln aus diesem Türstopper von einem Buch kunstvoll miteinander verzahnte Schicksale von über sechzig Personen – neben Herzögen, russischen Oligarchen, Politikerinnen, Rappern, Menschenschmugglern und Journalistinnen hat selbst die Queen einen Auftritt. Denen, die befürchten, im Getümmel sich bis nach Łódź und Reykjavík ausstülpender Erzähltentakel den Überblick zu verlieren, hilft ein Register. Im Zentrum der Handlung steht Campbell Flynn, ein ebenso kluger wie penibel gepflegter 52jähriger. Als Kunsthistoriker mischt er sich mit großem Erfolg in populäre Debatten ein, ob es nun um Mode, Großbritanniens verdrängte Geschichte der Ausbeutung, zeitgemäße Entwürfe von Männlichkeit oder HBO-Serien geht. Campbell ist ein Aufsteiger, der als Professor arbeitet, mit der Tochter einer Gräfin verheiratet ist und eine feine Immobilie nahe der Caledonian Road nebst Zweithaus besitzt. Den vermeintlichen Makel einer Kindheit in einem ärmlichen Wohnblock in Glasgow, wo seine Eltern in wunschlosem Unglück lebten, scheint er abgeschüttelt zu haben. Doch etwas stimmt nicht. Unter der schönen Oberfläche des perfekten Lebens brodeln Ängste, ein unerklärlicher Geruch zieht durchs Haus, und im Souterrain rebelliert die unkündbare Mrs. Voyles gegen ihren Vermieter.

Dass Campbells Welt allmählich aus den Fugen gerät, hängt mit Milo zusammen. Milo ist Campbells Student und wissenschaftlicher Mitarbeiter, ein heller Kopf, dessen Herz antikapitalistisch schlägt. Seinen politischen Kampf hat der schwarze Aktivist seiner äthiopischen Mutter gewidmet, die an Covid-19 starb und selbst noch auf dem Totenbett für Vizepräsidentin Kamala Harris stritt. Als Bitcoin-Fan ist Milo leidenschaftlich davon überzeugt, »Kryptowährungen befreiten die Menschen von der Ausbeutung durch Banken und Regierungen«. Er schreckt nicht davor zurück, sich in fremde Konten einzuhacken, um das Geld nichtsahnender Nutzer der Ukraine zukommen zu lassen. Campbell, der so gediegen lebt, dass er jedes Weihnachtsfest im glanzvoll geschmückten Ritz zelebriert, spürt in Milos Gegenwart eine rebellische Energie, die ihm abhandengekommen ist. Die Pole von Herr und Knecht oszillieren: Campbells provozierender Vortrag im British Museum, in dem er das ehrwürdige Haus kolonialistischer Hehlerei bezichtigt, basiert auf Milos Ideen. Doch eines Tages bricht der Schüler jäh den Kontakt ab. Campbell verliert den Boden unter den Füßen.

Das psychologische Drama, das sich zwischen Milo und Campbell entspinnt, ist in O’Hagans akribisch recherchiertem Roman nur ein kleiner, wenngleich ungemein schillernder Mosaikstein. Im Stil der großen britischen Romane von Dickens bis George Eliot hat sich der Autor dem Projekt verschrieben, so vielen gesellschaftlich relevanten Stimmen wie möglich Gehör zu verleihen – und er hat dies auf beeindruckende Weise gemeistert. Mit nahezu naturalistischer Präzision werden typisch britische Räume evoziert, vom poshen Restaurant bis zum Opernpicknick in Garsington, von der illegalen Textilfabrik bis zur Gefängniszelle, von der Drogenabsteige in King’s Cross bis zur Luxusimmobilie im Gasometer wenige Häuser weiter. Aggressionen zwischen Vätern und Söhnen, wie der Streit zwischen einem anrüchigen Kaufhauskönig und seinem gegen das Artensterben kämpfenden Sohn, strukturieren den Text. Immer wieder huschen Schatten der Londoner Realität durch den Roman. Sie kommen einem seltsam bekannt vor, die Oligarchensöhne, die die englische Kultur wie eine Tarnkappe tragen, die korrupten Tory- und Labour-Politiker, aber auch die schrille Anti-Wokeness-Kolumnistin, die stets den Platz »ein Stückchen rechts von General Pinochet« reklamiert.

Zu Recht ist gefragt worden, ob das aus dem 19. Jahrhundert recycelte Gesellschaftstableau in Romanform noch zeitgemäß ist. Schließlich ist heute Autofiktion gefragt, Texte, die sich an die Erfahrungen ihrer Autoren maximal anschmiegen, statt gleich die Deutung der Welt zu beanspruchen. Doch O’Hagan gelingt es, die schneeweißen Villen am Thornhill Square so dicht mit dem Gefängnis und den benachbarten Wohnblocks auf der Caledonian Road zu verweben, dass am Ende ein lebendiger Mikrokosmos entsteht, selbst wenn nicht jedes Milieu gleich gut getroffen ist. Frappierend, ambivalent und oft auch komisch verzahnen sich unterschiedlichste Erfahrungswelten, über denen ein zerbröselndes Parlament im Monetschen Nebel thront – gerade diese geheimnisvoll kollidierenden Welten sind es womöglich, die London ausmachen.

Andrew O’Hagan: ­Caledonian Road. Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. Verlag Park X Ullstein, Berlin 2024, 784 Seiten, 30 Euro

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Mehr aus: Feuilleton