Die geile Erbse
Von Eileen HeerdegenMein alter Bekannter Walter war ein begabter Künstler, die nicht ausschließlich selbst verschuldete Erfolglosigkeit hatte ihn zu einem noch begabteren Lügner gemacht. Ein begnadeter Faker, der Interviews erfand, Presseberichte fälschte, und sich mit derartiger Arbeit über Wasser halten konnte. Doch auch er fand seine Meister – den Kneipenwirt mit den sicheren Anlagetipps, der ihm den Gewinn nicht auszahlen konnte, weil man ihm sonst die Finger abgehackt hätte, den Untermieter, der nicht zahlte, weil in der Wohnung der Oma, wo ein üppiges Sparbuch für ihn lag, der komplette Strom und somit auch das Licht ausgefallen war, und schließlich der Produzent, der zur Vertragsunterzeichnung nicht kam, weil dem Kind die Zigarettenstummel aus dem Magen gepumpt werden mussten.
Wieviel Walter in Giovanni Fausti steckt, dem legendären musikalischen Leiter der Aufführung von Stockhausens Helikopterquartett in den 1990er Jahren, der den Abschuss in den Wirren des Jugoslawienkrieges nahe Zagreb nur knapp überlebt hatte, wer Betrogener und wer Betrüger ist, kann man sich durch den Roman von Peter Waldeck, »All der wilde Unfug«, erlesen, und wird vielleicht am Ende drauf kommen, dass Zuordnungen, wie auch das ganze Leben, nicht immer einfach sind.
Was Cornwall für Rosamunde Pilcher, ist für Peter Waldeck der Wiener Heurigenort Neustift am Walde. Doch könnte das tägliche Scheitern am Leben ebenso gut in Hamburg, Berlin oder Dresden stattfinden, sicher sogar in Hanau oder Treuenbrietzen.
Ein Karaokeabend: »Und los ging es mit einer blond gefärbten Frau, Ende Fünfzig, die aus allen Nähten platzte und ein flottes Lied im oberösterreichischen Dialekt sang, das unbegreiflicherweise einmal ein Hit gewesen sein musste (…) Etwa zehn Leute nutzten mit Routine das Podium, sie waren versoffen, irgendwie schäbig, übergewichtig, zu alt. Und trotzdem strahlten sie eine merkwürdige sexuelle Wachsamkeit aus. Auf der Wartebank rutschten sie zusammen, nutzten jede Gelegenheit, um einander schmatzende Busserl aufzudrücken; Schenkel wurden geknetet, Haare durchstrubbelt, Hände liebkost. Das Singen der Schlager war nur das Vorspiel, eine Ausrede, um danach übereinander herzufallen.«
Auf zugleich tragische wie urkomische Weise findet Waldeck mit sicherem Griff das Hässliche im Schönen. Das Streben nach Glück wird aufs Dumpfe herabgedampft, Liebe aufs Brünstige, und Spaß auf etwas, das immer weh tut. Mal dem einen, mal dem anderen.
Bei Protagonist und Ich-Erzähler Viktor Scherzwieser waren es immer mehr die anderen. Persona non grata seit einem misslungenen, gewalttätigen Scherz, ist der ehemalige Skandalregisseur nun allein seinem Tinnitus ausgeliefert, Geräuschen, die klingen, »wie ein stummer Mann, der in einem Zigarettenautomaten verbrennt«. Wurde Scherzwiesers Phobie, an Geburtstagsfeiern teilzunehmen, früher als interessant empfunden, merkt längst niemand mehr, dass er seit Jahren seine Wohnung kaum verlässt. Unerkannt besucht er Neustift, leckt Gehsteige, lutscht Kieselsteinchen und eine Kippe, die sich zu seiner Freude als ausgezutzelte Kaugummizigarette mit leichter Restsüße entpuppt, bis der alte »Kobold« erwacht: »Ich brachte die Leute zur Weißglut, indem ich zu singen begann.« – »Die Leute in ihren Villen wollten Nachrichten schauen. Ein Gläschen auf der Terrasse zu sich nehmen. Bei offenem Fenster einander an die Wäsche gehen. Aber da gab es diesen Idioten im Wald, der eine Arie nach der anderen meuchelte. Zu schnell gesungen, spöttisch intoniert, mit Inbrunst erfreute er sich an den falschen Tönen.« Auch eine Bürgerwehr kann ihn nicht stoppen.
Neben Giovanni Fausti, der aber nicht greifbar ist, da er in Litauen die Oper zur kostengünstigen Umstellung auf Vollplayback berät, bleibt Nenntante Erbse, später vor allem »die geile Erbse«, nahezu einziger Kontakt. Der zur bunten, flirrenden Erbse gehörende Onkel Konrad »war wie Sägespäne, Knäckebrot, ein Knäckebrot im Sarg. Es musste etwas Sexuelles sein, das die beiden verband, eine Vorliebe für eine besonders selten verbreitete sexuelle Spielart, etwas, wonach man anschließend Schmerzen hatte und verstört war. Das war es zumindest, was ich mit dreizehn dachte.«
Doch so fad kann niemand sein, dass Menschen nicht glauben, was sie glauben wollen. So schafft es Knäckebrots Sohn Clemens, Rockstar und Scherzwiesers Schulfreund, seinen Vater aus einer Laune heraus bei einer Show als Neil Young zu präsentieren: »Onkel Konrad war das nicht recht. ›I’m his father‹, korrigierte er mehr als einmal die falsche Vorstellung, aber die Leute nahmen das nicht wörtlich, sondern eher poetisch … Auch wusste niemand genau, wie Neil Young zu dieser Zeit aussah, wirklich jung hatte er ja nie gewirkt.«
Die geile Erbse hingegen hatte einfach seit jeher einen gigantischen Liebhaberverschleiß. Dass sie schließlich nicht von einem potthässlichen Ungustl namens Hadi loskommt, der ein Sinnbild für die unappetitliche bis bedrohliche, durch das Buch hindurchwabernde Sexualität sein könnte, legt die Vermutung nahe, dass die Tante weniger nymphoman als maximal verzweifelt sein könnte: »Hadis Schlafzimmer war das eines Mannes, der niemandem mehr etwas beweisen musste. Der wusste, dass in diesem Quartal keine Frauen mehr zu Besuch kommen würden, und wenn doch, dann waren sie blindgesoffen vom Tankstellenwein.«
Dass Lug und Trug, Scheitern und Selbstzerstörung außerordentlich witzig sein können, beweist Peter Waldeck mit einem durchgeknallten Plot und vielen feinen Ideen und Formulierungen. »Die Fenster hielt ich zuerst für Milchglas, dabei waren sie einfach mit Küchenfett verschmiert.«
Am Ende ein achterbahnwürdiger Showdown, der Leser kann sich an einem gigantischen Polterabend berauschen. Da bleibt nichts heil, man darf auf das Neue, das Gute, hoffen. Und ich frage mich, ob meine Sandkastenfreundin Ingrid vielleicht doch noch lebt, nachdem sie damals wegen einer Wespenallergie ins Krankenhaus musste, just als sie mir die geliehenen 200 Mark zurückgeben wollte.
Peter Waldeck: All der wilde Unfug. Milena-Verlag, Wien 2024, 220 Seiten, 25 Euro
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