Dosenschinken und andere Kleinigkeiten
Von Frank SchäferIn den Siebzigern war Lydia Davis ein paar Jahre lang mit Paul Auster verheiratet. Sie lebten eine Weile in Frankreich, übersetzten u. a. Georges Simenon, gaben eine Literaturzeitschrift heraus, gingen wieder zurück nach New York, bekamen einen Sohn und trennten sich. Davis’ Karriere begann schleppender als die ihres Exmannes, aber Mitte der Achtziger kam sie mit ihrem Prosaband »Break it Down« bei Farrar, Straus and Giroux unter (dt. »Es ist, wie es ist«, Droschl-Verlag), und von nun an nahm man sie ernst. Doch auch wenn die literarischen Institutionen sie gelegentlich mit Preisen bedachten, einer größeren Öffentlichkeit war sie eher für ihre Übersetzungen aus dem Französischen bekannt – von Proust, Maurice Blanchot, Michel Leiris und später auch von Flauberts »Madame Bovary«.
Lydia Davisʼ schrieb von Anfang an kurze bis sehr kurze Prosa. Sie nennt ihre Texte »Stories«, aber sie sind vieles – Glossen, Fabeln, Tagebucheinträge, Briefe, Anekdoten, Meditationen, Aphorismen, Witze, Prosapoeme –, nur keine konventionellen »Stories«. Es eint sie ihr Interesse für das völlig Banale, Triviale, Profane und somit leicht zu Übersehene, das sie dann sehr prägnant, stilistisch unaufgeregt, allenfalls mit leicht ironischem Unterton und meistens in strenger Verknappung aufs Papier wirft. Davis macht ihre Sujets nicht größer, als sie sind.
»William Cobbett und der Fremde« heißt einer ihrer Texte aus der aktuellen Sammlung »Unsere Fremden«: »Ein Mann, der ihm fremd war, fragte Cobbett, warum er so frisch und jung ausschaue. Cobbett antwortet, er stehe früh auf, gehe früh zu Bett, esse frugal, trinke nie etwas Stärkeres als ein kleines Bier, rasiere sich einmal am Tag und wasche sich mindestens dreimal täglich Hände und Gesicht. Der Fremde entgegnete, das sei zu viel, so viel könne man nicht machen.«
Es ist ein Spiel um Bedeutung, das Davis hier inszeniert und das im Grunde das Literarische an sich zur Disposition stellt. Was ist dran an diesem Stück? Gibt es eine weitere Lesart? Oder ist am Ende alles nur ein Witz? In einem längeren Prosastück über den englischen Journalisten, Polemiker und USA-Kritiker William Cobbett würde eine solche Passage nicht weiter auffallen, aber indem sie solche Kleinigkeiten aus ihrem Kontext löst und ihnen eine eigene Seite einräumt, verschafft sie ihnen Raum zum Wachsen, suggeriert sie einen semantischen Überschuss, den diese Texte vielleicht gar nicht in jedem Fall besitzen. Und damit macht sie ihre Sujets eben doch größer, als sie sind.
»Einsam (Dosenschinken)« überschreibt Davis einen anderen Text, ein Prosagedicht. »Die dünne kleine alte Frau / geht zaghaft / in ein Geschäft / am Tag vor Thanksgiving. / Sie fragt: / ›Haben Sie einen Dosenschinken?‹« Davisʼ Schreiben schrammt am Rand des Erzählens, an der narrativen Nullinie entlang, und der Abgrund des Belanglosen ist nie weit entfernt. Ihre »Stories« brauchen offensichtlich ein mitdenkendes Gegenüber, vielleicht gehören deshalb so viele Schreibende wie Jonathan Franzen oder Joyce Carol Oates zu ihren Bewunderern, weil die sich den Plot, der in diesen narrativen Samenkörnern schlummert, ganz einfach selber heranziehen können. Mit dem gleichen Recht kann man allerdings auch enttäuscht sein über eine solche narrative Kargheit, und das ist sicherlich einer der Gründe, warum Davis so lange ein Dasein als literarischer Geheimtipp fristen musste.
Sie experimentiert außerdem gern mit Erzählformen. Größeres Kassengift gibt es bekanntlich nicht. Serielle Texte sind ihre besondere Spezialität. In »Unsere Fremden« sammelt sie etwa »Ehemomente der Verärgerung«, also vor allem komische Kleinstzerrüttungen im Beziehungsalltag, oder »Berühmtheitsgründe«, kuriose Beziehungen oder Zufallsverbindungen zu vermeintlich Prominenten. In einem für ihre Verhältnisse langen Text sammelt sie tragikomische Kleinanzeigen, in denen die Inserenten nolens volens mehr von sich preisgeben, als sie wollen, was dann wiederum die Imaginationsmaschine in Gang setzt: »Hat jemand diese Brille verloren? Ich habe diese Brille gefunden (siehe Bild unten). Wenn Sie dies lesen können, kommen Sie bitte vorbei, um sie abzuholen.«
Es sind die thematische und formale Vielfalt und die immer wieder erstaunliche Wahl ihres Gegenstands, die ihre Texte auszeichnen. Was andere wegen Geringfügigkeit nicht für erwähnenswert erachten, bei ihr wird es literaturfähig. Immer wieder sind das auch die Imponderabilien und Klippen menschlicher Kommunikation. Wie in dem schönen Stück »Vater muss mir etwas erzählen«: »Vater steht in der Küche und versucht, mir etwas übers Christentum zu erklären, aber ich hatte wieder einen langen Tag, ich bin müde, ich höre nicht zu, und er sieht, dass ich nicht zuhöre. Später geht er nach oben und tippt eine Erklärung in zwei Absätzen, worin er aufzeigt, was er mir vorhin zu erklären versucht hat. Bevor er sie mir bringt, zeigt er sie meiner Mutter für ihre Rückmeldung. Ich reime mir dies erst später zusammen, denn ich erinnere mich, seine Schritte über meinem Kopf gehört zu haben, wie er in ihr Schlafzimmer geht, gefolgt von der Stille, während sie liest, was er geschrieben hat, und anschließend das Brummen ihrer Stimme. Er kommt runter zu mir ins Wohnzimmer, wo ich mich gerade befinde, und überreicht mir die getippte Erklärung. Er sagt, dass ich sie natürlich nicht sofort lesen muss.«
So oder ähnlich, könnte man sich vorstellen, entstehen auch ihre eigenen Texte. Vielleicht haben wir hier sogar den Ausgangspunkt ihres poetischen Werks.
Lydia Davis: Unsere Fremden. Stories. Aus dem amerikanischen Englisch von Jan Wilm. Droschl-Verlag, Wien 2024, 312 Seiten, 26 Euro
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