Solokonzert für Pfeifreden
Von Florian Neuner»Butzmann pfeift Gedichte«: Der Titel des Bändchens befremdet – und auch wieder nicht. Einerseits pflegt man Gedichte ja nicht zu pfeifen und könnte sich fragen, ob das überhaupt geht. Melodien kann man pfeifen, Lieder, Vertonungen von Gedichten. Nun fällt in dem Titel andererseits aber auch der Name des experimentierfreudigen Berliner Musikers, Hörspielautors und Performers Frieder Butzmann, dem erfahrungsgemäß alles Mögliche zuzutrauen ist – warum also nicht auch das Pfeifen von Gedichten? Butzmanns Freund Michael Glasmeier hat die gepfiffene Lyrik so fasziniert, dass er ihr eine ebenso kompakte wie weitschweifige, jedenfalls ungemein anregende Studie gewidmet hat.
Im Berliner Projektraum Zwitschermaschine war 2022 ein knapp 23minütiges Video von Frieder Butzmann zu sehen und zu hören: »13 Gedichte gepfiffen«. Butzmann ist im Brustbild zu sehen, wie er Gedichte von Andreas Gryphius und Friedrich Hölderlin bis Kurt Schwitters und Ernst Jandl, von Sappho bis Bertolt Brecht nicht nur pfeift, sondern dazu auch grimassiert und gestikuliert, als wolle er so wettmachen, was durch den Wegfall der Sprache nur noch zu ahnen ist. Im gepfiffenen Gedicht geht die Semantik flöten, während die rhythmische Struktur um so deutlicher in den Vordergrund tritt. Oft ist ja von der Verwandtschaft der Lyrik mit der Musik die Rede, die Gedichte der Romantik firmieren als »Lieder«. Gemeint ist damit freilich der Klang der Sprache, der ein Sprachkunstwerk auch ganz dominieren kann und in der Lautdichtung zur Sprachmusik mutiert. Wenn Butzmann Gedichte pfeift, verwendet er die Schrift als Partitur für seine »wortlose Instrumentalmusik«. Die Druckfassungen der Gedichte, so Glasmeier, werden zu »Notationen für eine improvisierende ›Erfindungsarbeit‹, an der nun der gesamte Körper beteiligt ist. Die Gedichte der Suite infizieren mit ihrer jeweils unterschiedlichen Rhetorik Pfeifreden und Körper gleichermaßen. Sie eröffnen mit einer substanziellen Sprachverwandlung (…) schließlich einen neuen Zugang zu einer alten, neuen deklamatorisch sprachmusikalischen Kunst, die sich erst in ihrer Form verwandeln muss, um sich wieder in ganzer Opulenz und Schönheit präsentieren zu können.«
Auf dem Umschlag des reich bebilderten Paperbacks ist der »Whistling Boy« von Frank Duveneck, gemalt 1872, abgebildet. Der in Cincinnati wirkende Duveneck hat gerne Jungs aus der Arbeiterklasse porträtiert – der pfeifende Junge ist aber vermutlich in Wahrheit ein rauchender, der Zigarettenrauch durch die Lippen bläst.
Michael Glasmeier, der Kunstwissenschaft in Weimar, Braunschweig und zuletzt in Bremen lehrte, beginnt seinen mäandernden Essay, den er als »Freundschaftstext« begreift, mit einer Betrachtung über das aussterbende »Volksvermögen« (Peter Rühmkorf) des Pfeifens. Wo heute Pfeiftöne zu hören sind, kommen sie in der Regel aus Lautsprechern: »Selbst das mittlerweile geächtete bewundernde Hinterherpfeifen, an dem Ginas Lollobrigida oder Sophia Loren in den 50er, und 60er Jahren noch ihr triumphierendes Vergnügen hatten, ist nun als Klingelton verfügbar.« Mit dem »jederzeit verfügbaren ökologischen Superinstrument« gelingt Butzmann Glasmeier zufolge nicht weniger als die Kreation einer neuen musikalischen Sprache. Und er zitiert Georg Christoph Lichtenberg: »Spüre ich einen Hang zum Scherzhaften, so pfeife ich.«
Auf nicht einmal 100 Seiten spannt Michael Glasmeier weite Bögen von der frühbarocken »Klangrede« (Nikolaus Harnoncourt) bis zu den Avantgarden des 20. Jahrhunderts, der Lautdichtung von Kurt Schwitters, dem Sprechgesang Arnold Schönbergs oder der »Grotesktänzerin« und Pantomimin Valeska Gert. Der pfeifende Butzmann ist für ihn ein »Consort in einer Person«: Die gestische und mimische Körperarbeit »bildet die Continuo-Gruppe eines klangredenden instrumentalen Solokonzerts«; im »affektgeladenen Pfeifreden« hört Glasmeier eine Nähe zu Claudio Monteverdi. Die »sichtbare Musik« der Grimassensprache wiederum führt zu Exkursen über die Physiognomik des 18. Jahrhunderts, den Stummfilm, die Manifestationen des Dadaismus und Karl Valentin. Dabei hat Glasmeiers Essayismus nichts aufgesetzt Gelehrtes, der Text ist gut geschrieben und lesbar. Der Kunsthistoriker, der immer am Randständigen, Abseitigen, medial nicht eindeutig Zuordenbarem interessiert war, nähert sich in seinem neuen Buch auch dem vielgestaltigen Œuvre Frieder Butzmanns über das Pfeifvideo vom Rand her. Wer tiefer eintauchen möchte, dem sei das 2020 ebenfalls im Martin-Schmitz-Verlag erschienene, auf Gesprächen Butzmanns mit verschiedenen Partnern beruhende Kompendium »Wunderschöne Rückkopplungen« ans Herz gelegt.
Neben Glasmeiers Essay enthält das Buch auch die 13 von Butzmann gepfiffenen Gedichte, bebildert mit Filmstills aus dem Video. Zu dem Film führt ein QR-Code. Der Betrachter muss zwischen zwei Möglichkeiten wählen, Butzmanns »optisch-akustische Sprachmetamorphose von eigenwilliger Schönheit« zu rezipieren: Entweder er liest die Gedichte mit halbem Auge mit oder er lässt die Texte ganz hinter sich und konzentriert seine Aufmerksamkeit auf die sprechende Musik.
Michael Glasmeier: Butzmann pfeift Gedichte. Martin-Schmitz-Verlag, Berlin 2024, 120 Seiten, 20 Euro
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