75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Donnerstag, 21. November 2024, Nr. 272
Die junge Welt wird von 2993 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Literatur (Buchmesse Frankfurt), Beilage der jW vom 16.10.2024
Literatur

Die Attentäter und der Hellseher

Wirklich erstaunlich: Ben Pastors fulminanter Krimi »Stürzende Feuer« über den 20. Juli 1944
Von Irmtraud Gutschke
9online.jpg

Dieser Krimi gehört auf jede Bestenliste! Atemlose Lektüre bis zum Schluss. Eine rasante Handlung, eingebettet in Ereignisse deutscher Geschichte, die hier eine eigene, aufschlussreiche Deutung erfahren. Historische Einsichten bieten sich, wie man sie so womöglich nicht erwartet hätte.

Warum die Italienerin Maria Verbena Volpi Pastor unter dem Namen Ben Pastor veröffentlicht, ließe sich womöglich dadurch erklären, dass sie mit einem US-amerikanischen Militärangehörigen (hieß er womöglich Ben?) in die USA übersiedelte. Dort lehrte sie an verschiedenen Universitäten, lebt inzwischen wieder in ihrer Heimat, schreibt aber auf englisch. Vielleicht auch passte der männliche Vorname besser zu ihrem Protagonisten. Mit Martin-Heinz Douglas von Bora einen deutschen Militär während des Zweiten Weltkrieges zum Detektiv zu machen, lässt allein schon aufmerken: Mordfälle aufklären vor dem Hintergrund des Krieges, wo das Töten als normal erscheint?

Dem neuen Krimi gingen weitere voraus: In »Tod der Äbtissin« (Piper, 2006) ist Martin noch Kavalleriehauptmann der deutschen Wehrmacht und Nachrichtenoffizier. In »Kaputt Mundi« (Piper, 2005) schon Major und im neuen Buch Oberstleutnant. Ungeachtet seiner kritischen Einstellung zu den Massenmorden an Zivilisten, Juden insbesondere, wurde er also befördert. Und den ganzen Roman über sehnt er sich zurück zu seinem Regiment in Italien, das ja zu dieser Zeit den alliierten Truppen entgegensteht.

Der Tod seines Onkels, Prof. Dr. Alfred Johann Reinhardt-Thoma, der in Dahlem eine »Klinik für Kindeswohl und Kindergesundheit« gegründet hatte (und sich gegen das Euthanasieprogramm der Nazis stellte), bringt ihn am 10. Juli 1944 nach Berlin. Bei dessen Staatsbegräbnis trifft er seine Mutter und wird am Abend zu SS-Gruppenführer Arthur Nebe, dem Chef des Reichskriminalpolizeiamtes, einbestellt. Die Nachricht kam von Carl Friedrich Goerdeler. Da könnte es manch einem auf Seite 30 schon »klingeln«, denn Goerdeler war von der Gruppe um Claus Schenk von Stauffenberg nach dem Sturz Adolf Hitlers als Reichskanzler vorgesehen und arbeitete bereits an Plänen für eine neue Verfassung und an Ministerlisten, die vielen Mitverschwörern später zum Verhängnis geworden sind. Unter den mehr als 200 Hingerichteten ist auch Arthur Nebe gewesen, der sich an diesem Abend noch in seiner Macht sonnt. Rätselhaft in diesem Moment, warum er den Wehrmachtsoffizier Bora beauftragt, in einem Mordfall zu ermitteln, statt diesen seiner Kriminalpolizei zu überantworten.

Es geht um Walter Niemeyer alias Sami Mandelbaum alias Magnus Magnusson, der in seiner Villa in Dahlem durch zwei Schüsse getötet worden ist. Da denkt man an Erik Jan Hanussen (eigentlich Hermann Chajm Steinschneider), der sich Freunde und Feinde in einflussreichen Kreisen erwarb und im März 1933 ermordet wurde. Für Niemeyer ist eine Liste von Verdächtigen schon zur Hand. Die wird Bora zusammen mit dem bulligen Leutnant Florian Grimm von der Kripo im Laufe des Romans noch abarbeiten. Es wird Indizien geben, Verhaftungen, weitere Todesfälle, Spuren, die in die Irre führen. Auch privaten Kummer und Begierden. So, wie es sich für einen ordentlichen Krimi gehört. Doch im Hintergrund wabert eben noch anderes. Die Autorin kann es bei Andeutungen belassen, denn wir wissen ja, dass es bis zum 20. Juli nicht mehr weit ist.

Wenn wir das Buch aufschlagen, erblicken wir einen Stadtplan von Berlin. Wirklich erstaunlich: Wie in einem Film führt uns die Autorin die Stadt zur damaligen Zeit vor Augen. Mit so vielen Einzelheiten, als wäre sie dabei gewesen. Wie sah es im Hotel »Adlon« und wie in einem Friseursalon von damals aus? Oder in den Beelitzer Heilstätten, wo sich Martin Bora bei Major Bruno Lattmann Rat holen kann? »Der Unterschied zwischen den Wohlhabenden und den Habenichtsen war seit Jahren nicht mehr so ausgeprägt gewesen.« Und was einem heute erst bewusst wird: die Standesunterschiede per Geburt. Bürgertum und Adel trafen im Naziregime aufeinander, und die Hochwohlgeborenen rümpften die Nase. Waren es nicht Emporkömmlinge gewesen, die alles in Unordnung brachten? »Diese Männer verhalten sich wie Offiziere des Deutschen Heeres im Kaiserreich, eine privilegierte Schicht, der ein gewisses Maß an Aufsässigkeit zugestanden wurde, weil sie zum selben gesellschaftlichen Milieu gehörte wie der Monarch. Auf diese Weise bereitet man keinen Staatsstreich vor.«

Der ist, wie wir wissen, dann auch gescheitert. Martin Bora, der seinem Offizierseid treu sein will, aber schon so viel im Krieg gesehen hat, um zerrissen zu sein, steht dennoch den Verschwörern distanziert gegenüber. In einer Krisensituation, wenn jeder jedem misstrauen muss, haben auch sie keine sauberen Hände. Jedes Mittel muss ihnen recht sein, damit ihr Vorhaben nicht entdeckt wird.

Dass Claus Schenk Graf von Stauffenberg in der BRD zu einem Symbol des Widerstands gegen Hitler verklärt worden ist, passte zum fortbestehenden Antikommunismus. Ben Pastor, 1950 in Rom als Tochter einer Jüdin und Enkelin eines Antifaschisten geboren, widmete ihr Buch »all jenen, die Widerstand geleistet haben, aber in Vergessenheit geraten sind«.

Ben Pastor: Stürzende Feuer. Aus dem Englischen von Hella Reese. Unionsverlag, Zürich 2024, 446 Seiten, 22 Euro

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Mehr aus: Feuilleton