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Aus: Literatur (Buchmesse Frankfurt), Beilage der jW vom 16.10.2024
Literatur

Wille, Würde, Schweigen

Anlässlich einer neuen Erzählung: Ein Porträt des uruguayischen Schriftstellers und Revolutionärs Mauricio Rosencof
Von Erich Hackl
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Mauricio Rosencofs Erzählung über »Das Schweigen meines Vaters« steht ein Sonett voran, das in seinem verhohlenen Überschwang gut und gern von Theodor Kramer stammen könnte: »Ein Glas mit meinem Vater«. In Kramers Gedichten wird viel getrunken, Schnaps und Wein bis zur Neige, während man sich Rosencof, wie die meisten seiner Landsleute und Roman­figuren, mit Kalebasse und Bombilla, also stocknüchtern, doch erhitzt vom geselligen Beisammensein vorzustellen hat. Aber elfeinhalb Jahre lang, von 1973 bis 1985, musste er nicht nur ohne Mate, das uruguayische Nationalelixier, sondern auch ohne Gespräch, ohne Gegenüber, ohne menschliche Stimme auskommen. Wie acht andere führende Mitglieder der Nationalen Befreiungsbewegung Tupamaros (MLN-T), unter denen sich mit Raúl Sendic deren Gründer und mit José Mujica ein zukünftiger Präsident Uruguays befanden, war Rosencof im Mai 1972 festgenommen, dann monatelang verhört und gefoltert worden. Nach dem Staatsstreich im Juni des darauffolgenden Jahres beschlossen die Militärs, die prominenten Gefangenen in Dreiergruppen aufzuteilen, alle paar Wochen von einer Kaserne in die nächste zu verlegen und sie dort voneinander getrennt in Kellerlöchern dahinvegetieren zu lassen. Sie beabsichtigten, die Geiseln in den Wahnsinn zu treiben, was ihnen in zwei Fällen vorübergehend auch gelang, und kündigten an, sie zu töten, falls die Tupamaros weitere Anschläge verüben sollten. Aber damit war es vorbei. Nach der militärischen Niederlage des MLN-T hatten die Streitkräfte freie Hand, auch die Gewerkschaft CNT und das Linksbündnis Frente Amplio zu zerschlagen.

Kampf und Folter

Einige der aufsehenerregenden Aktionen, welche die Tupamaros weit über Uruguay hinaus populär gemacht hatten, waren von Rosencof initiiert, geplant oder koordiniert worden: im Februar 1969 der Überfall auf das Casino San Rafael im Seebad Punta del Este, mit einer Beute von 50 Millionen Pesos; im Oktober desselben Jahres die Einnahme der Stadt Pando durch fünfzig Guerrilleros, die sich als Teilnehmer eines Trauerzuges getarnt hatten; im April 1970 der Diebstahl eines tonnenschweren Tresors aus der Villa der Industriellenfamilie Mailhos, der außer 240 Kilogramm Gold und 25.000 Pfund Sterling auch Geschäftsunterlagen mit Indizien auf Bestechung und Steuerhinterziehung enthielt, die zur Verhaftung des Bestohlenen führten; im Juli 1971 die unterirdische Flucht von achtunddreißig Tupamaras aus dem Frauengefängnis Cabildo, nachdem Rosencof sich über einen Kontakt im Rathaus Pläne des Abwassernetzes von Montevideo beschafft hatte; zwei Monate später der noch spektakulärere Ausbruch von hundertelf politischen und fünf gewöhnlichen Häftlingen aus dem Männergefängnis Punta Carretas durch einen frisch gegrabenen und einen halb verschütteten Tunnel, den Anarchisten im Jahr 1931 ausgehoben hatten. Dieses Ereignis, das als größter Gefängnisausbruch aller Zeiten ins Guinness-Buch der Rekorde einging, veranlasste den damaligen Präsidenten Jorge Pacheco Areco, die Armee zur »Aufständischenbekämpfung« einzusetzen. Neun Monate später betraten die Generale Gregorio Álvarez und Esteban Cristi in olivgrünen Uniformen das Abgeordnetenhaus, um beide Kammern des Parlaments aufzulösen.

Die Bedingungen, unter denen die neun Geiseln in den Kasernen gefangengehalten wurden – den höllischen Durst, den sie mit dem eigenen Urin, den Hunger, den sie mit Käfern und Würmern zu stillen versuchten, die Handschellen, die ihnen tief ins Fleisch schnitten, der übergestülpte Sack, unter dem sich schwer atmen ließ –, hat Rosencof in aller Drastik, dabei mit viel Humor und Zartgefühl in zwei Büchern beschrieben, die auch auf deutsch erschienen sind. Das eine, »Kerkerjahre«, ist das Protokoll eines zweiwöchigen Gesprächs mit Eleuterio Fernández Huidobro, der mit Mujica zu seiner Dreiergruppe gehört hatte, das andere ein bestürzender, zugleich lebensfroher, in den schier unglaublichen Details surrealistisch anmutender Roman, in dem Erlebtes, Geträumtes, Eingebildetes und Ersehntes ineinanderfließen: »Der Bataraz«.

Als die acht Guerrilleros – der neunte, Adolfo Wasem, war in Gefangenschaft an Krebs gestorben – im März 1985 freikamen und die Freude über das Ende der Diktatur in eine lange Feier überging, kehrte Rosencof in das Viertel Palermo zurück, in dem er aufgewachsen war, nachdem seine Eltern Isaac und Rosa, jüdische Einwanderer aus Polen, mit seinem Bruder León, der jung an Meningitis sterben sollte, und ihm, dem Einjährigen, aus der Provinzstadt Florida nach Montevideo übersiedelt waren. Aber als erstes hatte Mauricio seine Eltern im jüdischen Altersheim besucht, das ihretwegen – weil ihr Sohn ein »Terrorist« und Isaac Rosencof Kommunist war – Drohungen erhalten hatte. Die beiden lagen schon im Bett, lächelten, und seine Mutter sagte das erste Wort. »Nur diese Frage, die immergleiche seit meiner Geburt: ›Hast du auch was gegessen?‹« Dann winkte sein Vater Mauricio zu sich, an die Bettkante, weil er von ihm endlich den Unterschied zwischen Kommunisten und Tupamaros erklärt bekommen wollte. »Schau«, sagte Mauricio, »es ist ganz einfach: Wir Tupamaros sind die Kommunisten.« Daraufhin lehnte sich sein Vater lächelnd zurück. »Aha«, sagte er, »und wir sind die Tupamaros.«

Der letzte Revolutionär

Rosencof ist mit einundneunzig Jahren einer der letzten revolutionären Schriftsteller seiner Generation. Das erweist sich allein schon am freimütigen, seit der neokonservativen Wende in Verruf geratenen Bekenntnis, dass alle seine Aktivitäten, die politischen, die journalistischen und die literarischen, demselben Impuls folgen und sich nicht voneinander trennen lassen. Mit Naserümpfen würden die meisten Literaturbeschauer auch seine Antwort auf die Frage nach den drei Büchern zur Kenntnis nehmen, die ihm in seiner Bibliothek am wertvollsten seien: Gedichte Nâzım Hikmets, Nikolai Ostrowskis Roman »Wie der Stahl gehärtet wurde« und die Bibel, aus der sein Vater ihm und seinem Bruder abends ihre Lieblingsstelle vom Aufstand der Makkabäer vorgelesen hatte. Mit der einzigen Zeitung, die Woche für Woche ins Haus kam, selbstredend einer bolschewistischen, hatte er als Kind wenig anfangen können, denn sie erschien zwar in Uruguay, aber auf jiddisch und in hebräischer Schrift: Unzer Fraint.

»El barrio era una fiesta« heißt ein Roman des Autors, und tatsächlich ist der Alltag in den volkstümlichen Vierteln Montevideos, in denen er sich schon als Kind herumgetrieben hat, für Rosencof ein einziges Fest gewesen: weil er dort die Menschen beobachten und kennenlernen konnte, die dann in seine Theaterstücke, Zeitungschroniken und Erzählungen eingehen sollten: eigenbrötlerisch, aber großherzig, vereinsamt, aber mit der unstillbaren Sehnsucht nach Gemeinschaftlichkeit, rauhbeinig und bereit, Zärtlichkeit nicht nur zu empfangen, sondern auch zu spenden. Arm außerdem und gar nicht erpicht darauf, reich zu sein.

Der junge Mauricio Rosencof war ein ebenso ambitionierter wie geübter Schulabbrecher, der in den Boliches, den Kneipen mit ihren wackligen Stühlen und gekerbten Tischen, stundenlang Karten spielte und daheim seinen Vater vergeblich bekniete, dass er ihm Röhrenhosen schneiderte, mit denen er bei den Milongas die Mädchen beeindrucken wollte. Als sogar seinen Eltern schwante, dass er weder das Schneiderhandwerk ergreifen noch eine Laufbahn als Fußballprofi oder Mathematiklehrer einschlagen würde, schrieb sich Rosencof in einer Privatschule ein, in der er Maschineschreiben lernte und das einzige Abschlusszeugnis seines Lebens erwarb, zum Stolz der Mutter, die es einrahmen ließ und zu Hause an die Wand hängte, dort, wo schon ein Foto aus Lublin hing, auf dem neben anderen Verwandten – allesamt Schneider und Näherinnen – sein Vater zu sehen war, Isaac, der damals noch Rozenkopf geheißen ­hatte. Er trug einen Seitenscheitel und saß auf einem Schemel.

Mauricio sah nie einen Anlass, gegen sein Elternhaus oder Herkunftsmilieu zu rebellieren. Politisch hielt er sich an das, was er von klein auf mitbekommen hatte. Er war einer von denen, die 1955 des Kommunistischen Jugendverband (UJC) gründeten. Schon vorher hatte er angefangen, für die Parteizeitung zu schreiben, die damals noch La Justicia hieß und ihn wegen ihrer Huldigungsadressen an den weisen Führer der Völker nicht gerade begeisterte. 1957 erhielt sie einen neuen Namen, El Popular, und begann, sich stärker mit den sozialen Problemen des Landes zu beschäftigen. Als Agitator und Redakteur deckte Rosencof noch im selben Jahr die Not der wie Leibeigene gehaltenen Reisarbeiter von La Charqueada im Departamento Treinta y Tres auf, von der man im mittelständischen Montevideo ebenso wenig wusste wie vom Kampf der landlosen Zuckerrohrarbeiter in Bella Unión, hoch im Norden, bevor sich diese mit Sendics Hilfe gewerkschaftlich organisierten und wie einst die Coluna Prestes in Brasilien in Hungermärschen durchs ganze Land und auch in die 630 Kilometer entfernte Hauptstadt zogen. Rosencofs Reportagenband »La rebelión de los cañeros« (Der Aufstand der Zuckerrohrarbeiter) ist 1969, sieben Jahre nach dem Aufflammen der Proteste, erschienen und bis heute immer wieder aufgelegt worden, als ein Werk, das dem sozialistischen Politiker Guillermo Chifflet zufolge »gleichzeitig Zeugnis und Hoffnung ist, Kunst und Botschaft«.

Kunst und Botschaft

Dieses Urteil trifft auch auf Rosencofs Theaterstücke zu, für die er naturalistische und symbolistische Stilmittel kombinierte und dramaturgische Elemente der Murgas verwendete, der für Uruguay typischen Karnevalsgruppen, die das öffentliche Leben mit satirischen Sprechgesängen kommentieren. In Dramen wie »Las ranas« (Die Frösche), »La calesita rebelde« (Das aufmüpfige Karussell) oder »Los caballos« (Die Pferde), die ihn als Dramatiker früh bekannt gemacht hatten, stellte Rosencof neben Hunger und Verlassenheit auch die Fähigkeit der Menschen, speziell der zur Armut verdammten Kinder dar, sich andere Verhältnisse als die herrschenden vorzustellen. Den Willen, sie herbeizuführen, und die Würde, frei von Rachsucht zu sein. »Wer würdelos lebt, braucht sich nicht zu erinnern.« Mit diesen Worten beantwortete Rosencof 1993 die Frage von Gert Eisenbürger und Danuta Sacher von der Zeitschrift ila, woher er die Kraft genommen habe, die Jahre in den Verliesen der Kasernen durchzustehen. Mir hat er, ein oder zwei Jahre später, in ein Exemplar von »La rebelión de los cañeros« folgende Widmung geschrieben: »No hay nada más subversivo que el hambre.« Es gibt nichts Subversiveres als den Hunger. Wahrscheinlich war es diese Erkenntnis, die ihn Anfang der sechziger Jahre von der Kommunistischen Partei zu Sendics Tupamaros geführt hatte.

Wenn man von einem frühen Theaterprojekt absieht, das er nach einigen Entwürfen aufgegeben hatte, setzte sich Rosencof erst nach der Befreiung aus der Geiselhaft mit seiner jüdischen Familiengeschichte auseinander. Am besten gelang ihm das in dem schmalen Prosastück »Las cartas que no llegaron« (Die Briefe, die nicht ankamen). Darin erzählt der Autor aus der Perspektive des Kindes, das er einmal war, von sich, seinem Bruder, der Singer-Nähmaschine seines Vaters, seinem Freund Fito, der Katze Miska und dem Hund Zapi, dem Spanienkrieg, an dem die Leute im Viertel großen Anteil nahmen, der »Israelitischen Stunde« von Radio CX 42 und den Briefen aus Polen, die der Briefträger seinem Vater brachte, bis sie eines Tages ausblieben, weil die Verwandten in Bełżyce, der Kleinstadt südwestlich von Lublin, nach dem deutschen Überfall in ein Ghetto gepfercht, dann deportiert, zuletzt ermordet wurden.

Rosencofs Kunstgriff bestand darin, dass er selbst, in Person des acht- oder neunjährigen Jungen, der er damals war, diese ungeschriebenen Briefe schrieb, als Trost für seine Eltern und um die Ermordung der Verwandten in seiner Phantasie, die sowohl dem Wunschdenken des Kindes als auch der politischen Sichtweise des Erwachsenen entspricht, gleichsam zurückzunehmen. Denn die Erzählung – ihr Kern, den Rosencof für die Buchausgabe um zwei Kapitel erweiterte – endet mit dem Aufstand der deportierten Juden, dem Tod der ukrainischen SS-Männer, der Flucht aus dem Vernichtungslager in die umliegenden Wälder. Und mit dem massenhaften Schrei der Flüchtenden: »Ewig wie das Schweigen der Götter, Isaac, ist der Schrei der Menschen.«

In ihrem Schweigen

In seinem neuen Buch, das unter dem Titel »Los silencios del viejo« 2022 auf spanisch erschienen ist, erzählt ­Rosencof die Geschichte seiner ­Angehörigen in Uruguay und dem von Nazideutschland geschändeten Polen noch einmal – fast so wie in den »Briefen, die nicht ankamen« und doch anders. Den zeitlichen Rahmen bildet die Bahnfahrt seines Vaters nach Paso de los Toros, sechs Fahrstunden von Montevideo entfernt, »denn Isaac folgt der Spur seines Sohnes schon seit Jahren, und der steckt mal in der einen, mal in der anderen Kaserne fest«. Während der Reise erscheint ihm in der Spiegelung des Waggonfensters, vor dem Brachland, Lagerschuppen, Eukalyptusbäume und Weiden vorüberziehen, sein bisheriges Leben im polnischen Schtetl und in der Großstadt Lublin, auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs, auf dem Auswandererschiff, in Brasilien und in Uruguay. Aber bald melden sich in der ersten Person andere Leute zu Wort, zuerst Mauricio, dann zwei vorderhand ungenannte Überlebende der Judenvernichtung, deren Berichte der Autor nicht kannte, als er »Die Briefe, die nicht ankamen« erfunden hatte: Einer stammt von seiner Kusine Zofia Lederman, die Majdanek und Auschwitz überlebt und darüber vor Steven Spielbergs »Shoah Foundation« Zeugnis abgelegt hat, der zweite von Chil Rajchman, der im August 1943 am Aufstand der jüdischen Häftlinge in Treblinka teilgenommen hatte. Er wanderte nach der Befreiung nach Uruguay aus, wo ihn der Autor 2002, zwei Jahre vor seinem Tod kennengelernt hat. Was Rosencof in seinem unbändigen Verlangen nach Widerstand herbeiphantasiert hatte, Aufstand und Flucht der Todgeweihten, beglaubigte Rajchman in seinen Aufzeichnungen, die erst postum veröffentlicht wurden.

»Das Schweigen meines Vaters« durchbricht immer wieder die Chronologie der Ereignisse, weil es sich an die Erinnerung hält, die assoziativ arbeitet, sprunghaft, mit Vorgriffen, Rückblenden, retardierenden, aus unterschiedlichen Perspektiven geschilderten Episoden. Sie bilden ein Mosaik, in dem einzelne Steine fehlen. Trotzdem fällt es nicht schwer, der Handlung zu folgen. Stutzig macht einen nur hin und wieder ein Wort oder eine Formulierung der Übersetzerin, die hager mit mager verwechselt, dem Schaffner statt der Schirmkappe eine Schiebermütze aufsetzt, die Umkleidekabine zur forschen Umkleide verkürzt und einen Fuhrmann, der für die Leute im Viertel Kisten oder Möbel befördert, zum Inhaber eines »Karren-Delivery« adelt. Solche Stilbrüche sind störend, aber erträglich, weil Svenja Becker in der Regel Rosencofs Tonfall und vor allem sein Vermögen trifft, Menschen derart behutsam und liebevoll abzubilden, dass wir uns nach ihrer Gesellschaft sehnen und in ihrem Schweigen aufgehoben fühlen.

Mauricio Rosencof: Das Schweigen meines Vaters. Aus dem Spanischen von Svenja Becker. Verlag Assoziation A, Hamburg 2024, 160 Seiten, 18 Euro

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