Leben gegens Absolute
Von Barbara EderDas osteuropäische Schtetl ist eine von »fatum« und »nomos« beherrschte Welt: In ihr deutet jedes herannahende Unwetter auf eine Sintflut hin und jeder Regentropfen, der zu Boden fällt, ist eine Träne von weinenden Engeln. In Manès Sperbers »Die Wasserträger Gottes« setzt sich die religiöse Weltsicht bis in die Deutung der profansten Ereignisse fort: Naturphänomene erscheinen als von höherer Ordnung ausgehende Unterweisungen, alltägliche Unterdrückung ist demnach nichts Menschengemachtes.
Der zweite Band der im Sonderzahl-Verlag erscheinenden Manès Sperber-Werkausgabe erzählt aus autobiographischer Perspektive von einer untergegangenen Welt: Im ukrainischen Städtchen Zabłotów, das während der österreichisch-ungarischen Doppelkrone Teil des Königreichs Galizien und Lodomerien war und nach Ende des Ersten Weltkriegs zu Polen gehörte, wurde Sperber 1905 in eine jüdische Dorfgemeinschaft hineingeboren. In ihr lebt man in vollkommener Schicksalsergebenheit, darunter auch die titelgebenden Wasserträger. Sie zählen zu den ärmsten Bewohnern des Schtetls und vertrauen in ihrem entbehrungsreichen Leben einzig und allein auf Gott. Täglich schleppen sie Wasser in Eimern zu den Dorfbewohnern, gegen ihre Armut und die erniedrigende, schinderische Arbeit rebellieren sie nicht.
Für Manès Sperber gibt es aus der Welt des metaphysischen Wahns ein Entkommen, sein Sehnsuchtsort trägt einen Namen: Wien. Er wagt sich von der ostgalizischen Peripherie in das metropolitane Zentrum und wird dort Student des Individualpsychologen Alfred Adler. Die österreichische Hauptstadt beschreibt er als multikulturellen Ort, »von dem wir eigentlich unsere Identität außerhalb unseres Judentums bezogen«. In sie einzuwandern, ermöglichte ihm ein Leben abseits der vereinnahmenden »melting pots« und segregierenden »salad bowls« konventioneller Assimilationsmodelle. Als Stadt der Vielen bilde Wien die ideale Synthese einzelner Elemente, sie im nachhinein isoliert voneinander zu betrachten sei nahezu unmöglich – und auch irrelevant: Über 400 Jahre hinweg hatte die Hauptstadt als Zentrum eines Vielvölkerstaates innerhalb verschiedenster politischer Formationen existiert, eine Donauföderation wäre eine mögliche Antwort auf die aufkommenden Nationalismen gewesen – so der Grundtenor in Sperbers ursprünglich als Rede verfasstem Essay »Wien – Hauptstadt verschiedener Völker« in Band drei der Werkausgabe.
In Wien wurde Sperber nicht nur Psychologe, sondern auch Kommunist. Er verbreitete die Ansätze von Adlers Individualpsychologie innerhalb der Arbeiterbewegung, sie hatten den mit ihr konkurrierenden Lehren Entscheidendes voraus: Nicht von sexuellen Umtrieben im Unbewussten, familiaristisch verengten Ödipus-Komplexen oder dem überhistorischen Fortwirken mythologisch aufgeladener Archetypen ging Adler aus; vielmehr standen für ihn jene intersubjektiven Beziehungen im Zentrum, die Gesellschaft im Kleinen formen und stets von Klassen- und Generationenkonflikten durchzogen sind. Autoritätsgeist, Überlegenheitssucht und Herrschaftsstreben stellen nach Sperber Hindernisse für ein menschliches Zusammenleben nach dem Ideal einer freien Assoziation der Gleichen dar. Ein außerordentliches Geltungsbedürfnis ist für ihn nicht Ausdruck eines Nietzscheanischen »Willens zu Macht«, sondern ein elender Kompensationsversuch für ein ursprüngliches Defizit, wie er in »Das Unglück, begabt zu sein« ausführt. Unter gesellschaftlich begünstigenden Umständen kann das Mängelwesen Mensch sich jederzeit zum totalitären Herrscher aufschwingen – das eigentliche Ziel seines Werdens wäre jedoch ein Aufgehen in einer »autoritätslosen Erziehung«.
In »Zur Analyse der Tyrannis«, verfasst im Oktober 1937, entwirft Sperber eine idealtypische Skizze für alle Formen der Schreckensherrschaft. Bei ihm ist der Tyrann eine Variante des Psychotikers: Er agiert die eigene (nationale) Machtlosigkeit an den Nächstschwächeren aus und entkommt dennoch den Somatisierungen des Neurotikers. Anstatt in den Wald zu gehen und das Phantasma – Dunkelheit, Angst und Einsamkeit – zu durchqueren, zündet er alle Bäume an. Wo der Gehemmte sich der potentiellen Gefahr gar nicht erst aussetzt, vernichtet der Tyrann das ihm unbekannte Dickicht. Er hebt die Gewaltenteilung auf und schafft demokratische Mitbestimmung ab; seine Selbstüberhöhung rückt ihn in die Nähe zu vormaligen Gottheiten, mit seinem Allmachtsanspruch befriedigt er zugleich magische Bedürfnisse. Er zehrt von der säkularisierten Idee eines transmundanen Weltenschöpfers, das Fundament für sein innerweltliches Wirken bildet die eschatologische Erzählung.
»Jede Idee, die einen bestimmten Menschen übermenschlich erscheinen lässt, ist gegen alle anderen Menschen gerichtet. Sie ist menschheitsfeindlich«, heißt es in These fünf von Sperbers Resümee. Sobald ein Mensch einen anderen als Mittel zum Zweck, als bloßes Werkzeug zur Durchsetzung seiner Interessen benutzt, wende er sich gegen die gesamte Menschheit und alle Geschlechter, die innerhalb ihrer Geschichte unerlöst geblieben sind. Eine böse Liebe zu dem, was ein Tyrann seinen Untergebenen antut, hält ihn dennoch an der Macht. Diesem paradoxen »Genießen« geht ein kannibalischer Akt voraus: Es ist die heimliche Identifikation der Unterworfenen mit dem gegen sie gerichteten Aggressor – als Teil eines politischen Götzendienstes, den nur ein Tyrannenmord beenden kann.
Folgt man Sperbers Ausführungen in »Positionen. Ein Essay über die Linke«, verfasst in den Jahren 1952 bis 1953, dann wird klar, warum jeder Herrscher mindestens zweimal stirbt. An ihn zu erinnern, bedeute auch, ihn künstlich am Leben zu halten. Sperber zufolge ist Wladimir Iljitsch Lenin bereits drei Jahre vor seinem realen Tod gestorben – in jenem Moment, als er in den Märztagen des Jahres 1921 mit Trotzki gegen die Kronstädter Matrosen zu den Kanonen griff. Demnach hatte auch Lenin – dahingehend scheint Sperber implizit auf den Mediävisten Ernst Kantorowicz aufzubauen – zwei Körper, einen natürlich-sterblichen und einen politischen-unsterblichen. Seinen Essay über die Niederlagen der Linken hat er, während der Moskauer Schauprozesse aus der KPD ausgetreten, erst nach Stalins Tod veröffentlicht. Anfang der 80er, als die von Sperber harsch kritisierte Aufweichung der Begriffe »links« und »rechts« bereits in vollem Gange war, erschien sein Text in einem Sammelband des gewerkschaftsnahen Europa-Verlags. Sperber warnt darin vor einer Renaissance des Marxismus als neuzeitlicher Metaphysik und gemahnt seiner scharfen, analytischen Klingen – dort, wo Theorie zu Dogma und Denkschablone zu verkommen droht.
Sperber – dies scheint ein bis heute weitverbreiteter Irrtum – kam nicht als Überwinder des Marxismus, sondern als dessen ketzerischer Erneuerer. Evident wird für ihn der Hiatus zwischen Theorie und Praxis immer dann, wenn nicht Klassen, sondern Nationen gegeneinander kämpfen, gestählt an der Hegelschen Geschichtsphilosophie und einer Interpretation der Herr-Knecht-Dialektik, die bürgerliche Herrschaft schier verbrämt. Nicht nur am Vorabend des Ersten Weltkriegs klafft eine Lücke auf, sie zeigt sich auch im Jahr 1929: Die ausgebliebenen Streiks während der Weltwirtschaftskrise wertet Sperber als Indiz dafür, dass das Proletariat »die Arbeitslosigkeit weit mehr als die kapitalistische Ausbeutung« fürchte. Die Verelendungsthese, der zufolge sich die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse infolge der Reichtumskonzentration in den Händen der Kapitalistenklasse kontinuierlich verschlechtern würden, stellt er qua Rekurs auf eine internationale Statistik zur Lohnentwicklung in Frage. Sperbers Denken hält Marx’ Gespenster nicht nur auf vitale Weise am Leben, es beflügelt sie. Anders wäre es ihm, dem Individualpsychologen des Marxismus, nicht möglich gewesen, auf seine Wanderung durch die Zeiten zurückzublicken.
Manès Sperber: Wie eine Träne im Ozean. Ausgewählte Werke. Band 2. Hrsg. v. Rudolf Isler. Sonderzahl-Verlag, Wien 2024, 872 Seiten, 49 Euro
Ders.: Zur Analyse der Tyrannis. Ausgewählte Werke. Band 3. Hrsg. v. Rudolf Isler. Sonderzahl-Verlag, Wien 2024, 560 Seiten, 44 Euro
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