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Aus: Literatur (Buchmesse Frankfurt), Beilage der jW vom 16.10.2024
Lyrik

Schnee unter der Bettdecke

Nihilistische Lachanfälle: Neue Antigedichte und Montagetexte von Clemens Schittko
Von Kai Pohl
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Vor einigen Tagen fasste ich nach einer Anfrage den Entschluss, dem neuen Buch von Clemens Schittko (sein zwölftes, veröffentlicht im XS-Verlag, in pinkfarbenem Einband mit dem Titel »Nur Sex«, der im Grunde zum Anfüttern der Leserschaft gedacht, also letztlich ein Tarnname ist, wie der Autor kürzlich in einem Interview für die Freien Radios Berlin Brandenburg preisgab) eine Begutachtung zukommen zu lassen. Und wie ich es gerne mache, verbinde ich das Schreiben einer Rezension von Anfang an mit dem Nachdenken über eine passende Headline, eine Überschrift, die es in sich hat bzw. hergibt, einen Querschnitt des besprochenen Werkes mit tieferen, mitteilsamen Einblicken in seine auffälligsten Details zu verbinden. Ja, »Schreiben, schreiben und nochmals schreiben« könnte ein guter Titel für diese Rezension sein, ist es doch das, was der Dichter will, und er sagt es ganz unverblümt, oder besser gesagt, er schreibt es auf, und zwar mehrmals, damit die Botschaft wirklich gut ankommt, wenn auch beim Schreiben über das Schreiben immer ein Hauch von Betriebsnudelhaftigkeit in der Luft liegt.

Eine Überschrift, die mit Lyrik, Poesie und Subkultur zu tun hat, wäre vielleicht bezeichnender, etwa »Im Untergrund tanzen die Puppen«, oder noch abseitiger: »Grillverbot in öffentlichen Parks«, da in den neuen Gedichten des Clemens Schittko die gesellschaftliche Realität gedeutet wird anhand eingängiger, weil oft gehörter und jedenfalls in der Dichtkunst so nicht zu erwartender Floskeln im Sinne eines Zierrats, der den eigenen Ursprung ins Lächerliche zieht; »Das Schlimmste kommt noch / so, wie es jetzt ist / bleibt es nicht / oder hattet ihr gedacht, / dass es immer so weitergeht? / hattet ihr das wirklich gedacht? / nun, wenn dem so ist, / so muss ich euch leider enttäuschen / denn es wird definitiv nicht so weitergehen.« »Bluthochdruck entsteht / … die Herzkranzgefäße verengen sich / … Fettleibigkeit zeichnet sich ab / … die Magenschleimhaut entzündet sich / … eine Arthrose im Kniegelenk bahnt sich an«, – »Das Schlimmste aber sind Dichter, / die in Gruppen auftreten.« Das sagt ein Dichter über seine eigene Berufsgruppe! Und das ist erst der Einstieg, damit fangen all die Selbstbezichtigungen erst an: Sozialschmarotzer, Arbeitsverweigerer, Drückeberger, Müßiggänger, fauler Sack, »Brinkmann ist tot«, und dann behauptet er auch noch, er sehe aus wie Heiner Müller, ganz kontrafaktisch stellt er uns »die Löwin von Kleinmachnow« vor, schwadroniert irgend etwas über Bier – oder war es Wein, »oder sogar Rum?« – begleitet uns vor »die fünf Säulen der Poesie« und fabriziert mit gereifter Hybris endlich in einem Vierzeiler »das totale Gedicht«.

Gegen solch gewagt unbotmäßigen Übermut hilft nur noch »Selbstkritik«, denn »wer unten ist, / kann alles so klar und offen sagen, / wie es ist / denn wer unten ist, / hat ja nichts mehr zu verlieren«. Und so kann er auch Allerweltsgeraune in philosophischen Sinngedichten parodieren, beziehungsweise umgekehrt – »irgendwas ist schließlich immer«, oder hanebüchene Medienschoten in einem vierzehnseitigen Langgedicht zu einem wüsten Zeitgeistcluster montieren, oder zeigen, wo »der Weg vom Undergroundautor zum Literaturnobelpreisträger« langgeht, oder zu allem Überfluss in einem »Intermezzo« seinen Schwanz beschreiben, wonach er uns allen einen schönen Tag wünscht und man sich fragt, ob das schon Sarkasmus ist oder noch Ironie, ob das nur ein Witz sein soll oder doch schon Humor. Ist das Pop oder ist es Populismus? Lyrischer Populismus? Unterwanderung des Mainstreams durch nihilistische Lachanfälle? Wenn der Tod einerseits »nur ein Wort« ist, das aus »drei Buchstaben« besteht, andererseits aber zum »Arschloch« erklärt wird?

Aber Spaß beiseite, im Ernst liefert Schittko mit seinem sexy Buch Beiträge zur Ächtung einer bildungsbürgerlichen Erbauungskultur, die nach wie vor in literarischen Gefilden ihre Auftritte hat. Seine Lyrik bleibt – in bester fauserscher Manier – bei denen, die unten sind. Schließlich geht es um »die Ängste in den Zeiten der EU«, um Sklaven und Fußball, um das Leben (»ja …«), um die Liebe (»hach ja …«) und am Rande auch um Sex. Aber zurück zur Eingangsfrage nach der passenden Überschrift. Wie wäre »Frisches Schwarz« oder besser gleich »Hier kommt frisches Schwarz«? Die Druckerschwärze, die Buchstaben, die Schrift, die schwarze Kunst, die schwarzen Zahlen … Doch »zunächst die Fakten«: »Niemand liest heute noch mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke / unsere Kinder kennen kaum noch Schnee / doch das Wort hält sich noch in den Lexika.«

Solange die Frage »wer liest denn heutzutage noch Lyrik?«, in den Bibliotheken ungelesener Bücher, den Wisch-und-weg-Bewegungen auf den mobilen Displays und vor den Spätis unserer Städte herumlungert, hat jeder Versuch, poetische Ideen in die potentielle Leserschar zu tragen, allergrößte Berechtigung. Und wer es bis zum letzten Text des fröhlichen Kompendiums namens »Nur Sex« geschafft hat, kann sich freuen auf ein kleines Meisterwerk, in dem der Autor vorführt, dass es weder vieler noch großer Worte bedarf, um ein Gänsehautgedicht zu schreiben: »Der Wald, der Stein / das bist du / der Rand, der Blick / das bist du / die Wand, die Sonne / die Wolke, der Schlaf / der Garten, die Welt / das bist du.«

Clemens Schittko: Nur Sex. XS-Verlag, Berlin 2024, 177 Seiten, 20 Euro

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