Zwischen Paranoia und Perestroika
Von Michael SommerAls Mittfünfziger mit DDR-Hintergrund befindet man sich in Sachen Westmusik stets in einer Art nachholender Entwicklung. Alles muss nachbesorgt, angelesen und angehört werden – bis man merkt, dass man sich hier möglicherweise nachträglich eine Jugend draufgeschafft hat, die gar nicht die eigene war. Es gab eben eine mehr als sichtbare Sperre, die – abgesehen davon, was übers Westradio ins Land kam – davon abhielt, Westmusik rasch nach ihrem Erscheinen zu hören. Insofern ist Frank Apunkt Schneiders kürzlich in vierter Auflage erschienenes Buch »Als die Welt noch unterging. Von Punk zu NDW« ein Blick durchs Schlüsselloch des Schlüssellochs.
Dabei ließen sich in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren in DDR und BRD durchaus ähnliche Erfahrungen machen. Befand man sich zwar einerseits auf verschiedenen Seiten des Eisernen Vorhangs, war es doch der gleiche Himmel, der jederzeit auf einen herabfallen konnte.
Und Kinder, was war das damals für eine Zeit: atomare Hochrüstung, Ronald Reagan, die bösen Bonner Ultras, Breschnew, der ganze Scheiß. Zwei unversöhnliche Machtblöcke in ständiger Alarmbereitschaft. Ein gähnender Abgrund.
Frank Apunkt Schneider sieht in genau diesen Umständen eine Voraussetzung für die Geburt einer neuen Musikrichtung: »Vor diesem also doch verdammt realen Weltendehintergrund waren Punk und New Wave politisch. Nicht, weil sie oft dieselben überflüssigen Kommentare dazu abgaben wie Kirchentage, sondern weil Punk und New Wave das mögliche Ende ab den späten 1970ern als Realitätsmaterial akzeptierten.«
Die »Untergangsstimmungskanonen« (Schneider) mussten also nichts weiter tun, als ihre No-future-Haltung in Musik zu verwandeln. »Sinn« als »moralische Übereinkunft« wurde da überflüssig, so Schneider weiter. Und die Aussichtslosigkeit wirkte befreiend: Mit der »Zukunft« sei das »Disziplinierungsmittel der Kontrollgesellschaft« in sich zusammengefallen. Also weg mit dem Bausparvertrag, her mit der eigenen Band. Do-it-yourself.
Abgrenzung
Bevor sich Schneider intensiv mit der Entstehung von Punk, dann von Neuer Deutscher Welle befasst, geht es ihm um Abgrenzung: Für alle, die bei NDW an Nena und Hubert Kah denken – natürlich geht es hier um Undergroundbands. Wobei dennoch die großen Labels eine Rolle spielen, in dem sie NDW-Acts erst auf-, dann verkauften und 1983 wie eine heiße Kartoffel fallen ließen. Eine solche Grenzziehung kommt dann nicht ohne eine vorhergehende Begriffsklärung aus. Schneider entscheidet sich bei aller Unübersichtlichkeit dafür, den Begriff NDW gerade deshalb beizubehalten, weil er so schwammig ist.
Damit Punk und New Wave den Pop, zu dem jetzt mal so etwas wie Rockmusik dazugerechnet wird, ablösen konnten, musste dieser erst einmal Patina annehmen: »Die 1970er Jahre waren das Jahrzehnt, in dem Pop nicht mehr nur der Soundtrack von Pubertät (…) oder Adoleszenz (…) war. Weil die mit ihm Sozialisierten sich von ihm nicht lösen müssen, wollten, wurde er eine Kulturform, die sie ein Leben lang begleiten sollte. Und um nicht zur nostalgischen Farce zu erstarren, musste er mit ihnen altern«, schreibt Schneider. Geradezu symptomatisch waren dann solche Phänomene wie der VW-Golf »Pink Floyd«. Punk handele »vom Skandal des Erwachsenwerdens von Pop«, notiert Schneider.
Um die erstarrten Verhältnisse beispielsweise eines Bombastrockkonzertes wieder zum Tanzen zu bringen, sei Punk unerlässlich gewesen: »Tanzen erlebt im Punk seine Renaissance als Pogo, und Bandbespucken und Punkkonzertgewalt sind panische Übungen in Distanzlosigkeit.«
Produktionsbedingungen
Ohne einen materialistischen Ansatz geht es nicht, und so widmet sich Schneider ausführlich den Produktionsbedingungen von Musik Ende der 1970/Anfang der 1980er Jahre und ihrem Warencharakter. Rockmusik als Hobby sei in der BRD nicht praktikabel gewesen, mit fatalen Folgen. Schneider nennt das die »Technologiespirale«, die »deckungsgleich mit der ästhetischen Elendsspirale« gewesen sei: Immer teurere Instrumente hätten zu immer armseligeren Platten geführt. Erst das »technologische Downsizing in Punk und Wave« habe ein hohes Maß an kreativer Energie freigesetzt. Daneben war es aber unerlässlich, sich von den gängigen Rockismen und so etwas wie dem Anspruch, ein Profimusiker sein zu wollen, zu verabschieden. Verbreitungswege spielten natürlich auch eine große Rolle: Ohne die Popularisierung der Kompaktkassette wäre ein solcher »Erfolg« von Punk und NDW nicht möglich gewesen. Aber auch die Rückbesinnung auf die Vinylsingle im Unterschied zur elaboriert daherkommenden LP sei entscheidend gewesen, so Schneider.
Ein weiterer wichtiger Faktor, um die Neue Deutsche Welle erst entstehen zu lassen, sei die »Entscheidung« für die deutsche Sprache gewesen. Möglicherweise, so Schneider, habe diese sogar »genuine New-Wave-Qualitäten«. Das hat nicht zuletzt eine Fülle skurriler Bandnamen hervorgebracht – nicht nur im deutschsprachigen Raum (Professor Sauerbruch und das Krankenhaus am Rande der Stadt), welche die gängigen englischen Punkbandnamen abgelöst hätten. Gleichzeitig sei es Bands gelungen, Deutsch so klingen zu lassen, dass »das Geheimnis, das im Kern von Pop vermutet wurde, erhalten blieb«, so Schneider.
Nachschlagewerk
Frank Apunkt Schneider ist der Chuck Norris unter den NDW-Schreibern: Ob Bands wie Mittagspause, Autofick, Neues Deutschland oder Palais Schaumburg, er kennt sie alle – Bandnamen, Veröffentlichungen, Labels, Labelmacher, Fanzines, lokale Szenen und ihre Größe. In einem eigenen Kapitel liefert er eine Art Rangliste deutscher Städte und ihrer Punk/NDW-Szenen. Platz eins: Berlin u. a. mit dem SO 36; Platz 19: Bonn. Selbstverständlich kommt auch er nicht ohne Referenzsystem aus, der Name Alfred Hilsberg als Sounds-Autor, umtriebiger Plattenmacher und »Aggregator« (Christof Meueler) der Szene fällt häufigst, auch Sounds-Redakteur Diederich Diederichsen. Schneider arbeitet sich aber auch kräftig an Jürgen Teipels Band »Verschwende Deine Jugend« ab: Ein »schnelles Nachschlagewerk«, das man sich »für alle Fälle ins Regal ferchen« sollte.
DDR
Was aber passierte im »anderen Deutschland«? Wenige Seiten widmet Schneider der Punk- und New-Wave-Szene in der DDR, vergessen hat er sie nicht. Bands wie Die Art, Die 3 von der Tankstelle, aber auch in der DDR durchaus massenwirksamere Bands wie Reggae Play, Scheselong, Mona Lise, Juckreiz (mit ihrer für DDR-Verhältnisse eigentlich immer noch unglaublichen NDW-Rap-Nummer »Zeck, Zoff, Trouble en masse«) oder Pankow werden genannt. Die Musik der in der späten DDR entstandenen AG Geige wiederum, so Schneider, habe »so weit draußen« sein können, weil sie von »so weit draußen kam«. Niemand habe die Mischung aus Paranoia und Perestroika besser eingefangen als diese Band. Der Anhang des Buches enthält gerade zum Thema DDR-Underground wertvolle Literaturhinweise (Galenza/Havermeister, »Wir wollen immer artig sein. Punk, New Wave, HipHop und Independent-Szene in der DDR von 1980 bis 1990«). Einen kleinen Überblick über den experimentellen Elektronikuntergrund versammelt der Sampler »Magnetband« (Bureau B/Zonic 2017). Es spricht für den Autor, dass er sich dieser Szene ohne Häme, sondern mit großer Sympathie nähert.
Die Materialfülle des Buches ist erschöpfend, der Kenntnisreichtum des Autors scheint unerschöpflich. 159 von 402 Seiten füllt eine so wahrscheinlich selten zu erhaltende Diskographie/Bibliographie. Vor allem aber gelingt Schneider hier eine Durchdringung des Gegenstands aus poptheoretischer und materialistischer Sicht, die Maßstäbe setzt.
Wie viele andere Trends verraucht auch NDW irgendwann – die Vereinnahmung durch die Musikindustrie, die extra »Schein-Indies« (Schneider) gründet, ein Überangebot an Acts, aber auch die Unfähigkeit der verschiedenen Independent-Labels sich einen gemeinsamen Vertrieb zu geben, machen ihr den Garaus.
Der parallel auf Tapete Records erschienene, von Frank Apunkt Schneider kuratierte Sampler lässt nachhören, wie viel an innovativer Kraft es da mal gab.
Frank Apunkt Schneider: Als die Welt noch unterging. Von Punk zu NDW. Ventil-Verlag, Mainz 2024, 402 Seiten
Diverse: »Als die Welt noch unterging« (CD/LP, Tapete Records)
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