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Aus: Literatur (Buchmesse Frankfurt), Beilage der jW vom 16.10.2024
Sachbuch

Der Rest ist Lärm

Mutmaßlich definitiv: Joe Boyd hat das umfassende Kompendium über Weltmusik geschrieben
Von Andreas Schäfler
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Als Newsletterabonnent von Joe Boyd wurde man über die Jahre regelmäßig mit originellen Betrachtungen und exquisiten Analysen zum populären Musikgeschehen versorgt. Und mit unwiderstehlichen Konzert- und Plattentipps als Zugaben. Oft ging es dabei um Spätfolgen von Boyds jahrzehntelangem Wirken als Produzent und uneitler Anreger auf den unterschiedlichsten stilistischen Terrains. In letzter Zeit flossen die Informationen immer spärlicher, um schließlich ganz zu versiegen. Schade um das Verwöhnprogramm, aber kein Anlass zur Sorge, denn man ahnte: Jetzt war Boyds vielfach angekündigter großer Ziegel endlich im Ofen. Wie lange der Brennvorgang wohl dauern würde?

Neugier und Vorfreude auf das mutmaßlich definitive Buch über Weltmusik waren auch deshalb groß, weil Joe Boyd 2006 »White Bicycles« vorgelegt hatte, seine autobiographische Bilanz der vermeintlich auserzählten 1960er Jahre und eine der besten Popmusikdarstellungen überhaupt. Boyd, der als Produktionsleiter des Newport-Festivals 1965 Bob Dylans Übertritt zur Stromgitarre miterlebt hatte, als Tourmanager des US-Impresarios George Wein in London hängenblieb, dort zusammen mit John Hopkins den UFO-Club aufmachte, wo Pink Floyd und Soft Machine debütierten, der Mann hinter Nick Drake, Fairport Convention, The Incredible String Band, ja kurze Zeit auch hinter ABBA, als sie noch The Hep Stars hießen – wer wäre berufener gewesen, aus dem einen und anderen Nähkästchen dieser Dekade zu plaudern? Zumal Joe Boyd seine Erinnerungen so authentisch wie (selbst)ironisch wiederzugeben wusste und dabei im Unterschied zu so vielen Chronisten vor ihm nicht geschwätzig wurde.

Seine Lebens- und Wirkungsgeschichte nun einfach fortzuschreiben, hätte den 82jährigen angesichts der eigentlichen Aufgabe jedoch gelangweilt. Es sollte ja endlich ums große Ganze gehen: die lebenslange Reise durch die globale Musik, die seit ­Boyds Gründung von Hannibal Records 1980 mächtig Fahrt aufgenommen hatte, zu vollenden und die Essenzen von Blues, Jazz, Rock sowie aller möglichen Spielarten dazwischen an ihren Ursprungsorten dingfest zu machen. Wo er dabei ausnahmsweise mal Neuland betrat, konnte er auf ortskundige Führer zählen, und insbesondere wenn es um die Verknüpfungen mit Politik und Geschichte ging, halfen auch kluge Bücher weiter. Wie aber raffiniert und bändigt man einen solchen Wust an Recherchen, dass am Ende ein stringentes und vergnüglich zu lesendes Opus magnum herauskommt?

Der Titel »And the Roots of Rhythm Remain« ist Programm – und eine Reverenz an den Paul Simon-Song »Under African Skies« von dessen 1986er »Graceland«-Album: Der politisch unbedarfte Ausfallschritt des US-Songwriters in die Townships von Johannesburg brachte ihm damals die dringend benötigte musikalische Frischzellenkur, zwei Grammys, viel Geld und jede Menge Ärger ein. Aber die Welt konnte die Apartheidmissstände nun nicht mehr ohne weiteres ausblenden. Und sie interessierte sich plötzlich auch für die Musik von Ladysmith Black Mambazo und Youssou N’Dour.

Ein nachgerade klassischer Fall von unlauterer kultureller Aneignung? Schwarzweißmalerei ist Joe Boyds Sache nicht. Viel lieber durchleuchtet er – wie in einem selbstverordneten Studium generale – die komplexen Voraussetzungen in Südafrikas (Kolonial-)Geschichte, arbeitet die Rivalitäten zwischen den lokalen Ethnien heraus, auch das Charakteristische ihrer je eigenen Musikstile, und ruft z. B. eine Band wie Mahlathini and the Mahorella Queens in Erinnerung. Die war nicht bei »Graceland« dabei, setzte auf dem Höhepunkt der Afropopwelle aber auch schon mal 100.000 Platten in Europa ab. 1983 war ihr extrem tanzbarer Township Jive von Malcolm McLaren für sein »Duck Rock«-Album geplündert worden – was gemeinhin als erster Eintrag in die Weltmusikannalen gelten kann.

Boyd stößt allerdings auch auf einen wenig bekannten Vorläufer. Schon 1853 war ein Zulu-Chor in London aufgetreten, zum großen Missvergnügen eines Kritikers namens Charles Dickens: »Wenn wir etwas von diesen edlen Wilden lernen können, dann, was es zu vermeiden gilt.« Das Publikum jedoch war hingerissen, nicht zuletzt von der exotischen Inszenierung der Musik. Bei seiner Wissensweitergabe versprüht der Privatgelehrte Boyd nebst Kompetenz und Eleganz auch viel ansteckende Begeisterung. Angemessen traurig aber resümiert er seinen eigenen Südafrika-Transfer, den er bereits um 1970 mit den fantastischen Jazzmusikern von Chris McGregors Blue Notes bzw. The Brotherhood of Faith eingegangen war. Sie konnten in Europa nur bei Eingeweihten reüssieren, verstarben (bis auf den Schlagzeuger Louis Moholo) einer nach dem andern früh und wurden erst postum gebührend gewürdigt.

Nach diesem ganzheitlichen Ansatz und immer bereit, in der großen Erzählung vor- und zurückzuspulen und unverhoffte Wunder am Wegesrand mitzunehmen, verfährt der Autor auch an den Schauplätzen der übrigen Großkapitel: Was hatte auf Jamaika überhaupt zum Reggae geführt, der dann mit Bob Marley plus Gefolge dank Island-Boss Chris Blackwell weltweit durchstartete und auch noch Ska, Rocksteady und das Dub-Mixing im Gepäck mitführte? Was war auf Kuba (wo Boyd mit Ned Sublette den denkbar besten Guide aufbietet) dem Phänomen Buena Vista Social Club musikalisch, historisch und politisch alles vorausgegangen? Und dem Tango in Buenos Aires, dem Flamenco in Sevilla? In Brasilien der Samba und der Bossa Nova? Selbstverständlich geht es auch nochmals auf den afrikanischen Kontinent, mit Mali, Ghana und Nigeria als Stationen. Und auf den volksmusikalisch schier unerschöpflichen Balkan, wo Boyd schon früh vor Ort geforscht (Bulgarien, Ungarn) und später auch produziert hat (Albanien, Bosnien). Die Musik Indiens nicht zu vergessen: Die Episode, wie George Harrison die Ragas von Ravi Shankar entdeckte, während er in Beverly Hills in der Badewanne von Zsa Zsa Gabor lag, nimmt der Autor als Ausgangspunkt für elliptische Volten, die nach und nach die lange Geschichte und den Formenreichtum indischer Musik erschließen helfen und auch deren Wirkung auf John Coltrane, Yehudi Menuhin u. v. a. untersuchen. Und in einem längeren Exkurs zur musikgeschichtlichen Entwicklung (bzw. deren angestrebter Vereitelung) in Russland erbringt er sogar noch den bisher schlüssigsten Nachweis, warum böse Menschen keine Lieder haben: Die identitätsstiftende Kraft von Musik kann durchaus zur Bedrohung der Mächtigen werden.

Die Prozesse von musikalischer Weitergabe waren schon immer mannigfaltig. Spätestens mit der Erfindung der Schallplatte und dem Aufkommen des Radios übersprang Musik dann auch mühelos ein, zwei Ozeane. Mal tradieren sich Stilelemente über lange Zeiträume hinweg, mal in einem einzigen fruchtbaren Moment. Und was als exotischer Import in der ersten Welt einschlägt, kann am Ursprungsort schon wieder außer Mode sein. Als Purist käme man beim Sortieren und Beurteilen all dieser Dynamiken nicht weit. Joe Boyd anerkennt durchaus die demokratischen Effekte technologischer Errungenschaften beim Produzieren und digitaler Verfügbarkeit beim Konsumieren von Musik, aber ein erklärter Freund von Autotune und Drumcomputer wird er wohl nicht mehr. Nach seinen ergiebigen Tiefbohrungen auf vier Kontinenten plädiert er im Schlusskapitel »How we begin to remember« einigermaßen energisch dafür, die Artenvielfalt auch auf musikalischem Gebiet zu entdecken, zu hegen und zu pflegen.

Boyds Verlag preist das Buch als Weltmusikäquivalent zu »The Rest is Noise«, Alex Ross’ üppigem Streifzug durch das ernste musikalische Fach des 20. Jahrhunderts. Sich die knapp tausend Seiten Joe Boyd einzuverleiben, während keine zwei Kilometer entfernt in ebenfalls mehrwöchiger Arbeit die gigantische Bühne für zehn Adele-Freiluftkonzerte in Folge hochgezogen wurde, entbehrte nicht einer fiesen Paradoxie. Werden sich die Roots of Rhythm gegen die Allmacht solcher Illusions- und Geldmaschinen in Zukunft noch behaupten können? Als musikalische Großereignisse sind Boyds Weltmusikbibel und die Adele Productions allerdings so antagonistisch, dass sie nicht in direkter Konkurrenz zueinander stehen. Im Vergleich zum kühl kalkulierten, aber bombastisch inszenierten Marketing für die letzten paar Melkkühe des Popbusiness ist das neue Buch von Joe Boyd ein schlichtes, aber ehrliches Werkstück – und ein uneigennütziges Vermächtnis, mit dem man keineswegs auf verlorenem Posten steht. Auf der Website des Autors ist bereits eine Playlist mit den ersten 100 Songs zum Buch aufgeschaltet. ­Werden Sie neugierig!

Joe Boyd: And the Roots of Rhythm Remain. A Journey Through ­Global Music. Faber, London 2024, 929 Seiten, circa 32 Euro

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