»Stirb woanders – erspar uns die Schande!«
Von Sabine LuekenEmil Baum wurde am 11. Januar 1940 im KZ Mauthausen ermordet. Als sein Urenkel Daniel Engel im Juli 2020 einen Stolperstein für seinen Urgroßvater an dessen letztem Wohnort in Landstuhl verlegen lassen wollte, wurde ihm das von den dortigen Behörden verweigert.
Ernst Siegfried Wiedau überlebte das mörderische »Schuhläuferkommando« im KZ Sachsenhausen und den Todesmarsch nach Bergen-Belsen. Dort wurde er von alliierten Truppen befreit. In einem DP-Camp wartete er darauf, zu seiner Ehefrau zurückkehren zu können. Sie schrieb ihm: »Stirb woanders und erspare uns die Schande!« Völlig entkräftet starb er am 27. November 1945 im städtischen Krankenhaus seiner Heimatstadt Bremen mit 37 Jahren.
Beide gelten erst seit einem Bundestagsbeschluss vom 13. Februar 2020 als Verfolgte des Naziregimes. Sie gehören zu den Männern und Frauen, die als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« in den KZ den schwarzen oder den grünen Winkel tragen mussten. Nach 1945 hieß es, sie seien »zu Recht« im KZ gewesen. Den Überlebenden wurde Entschädigung verweigert, ihre Nachkommen schwiegen schamhaft, falls sie überhaupt davon wussten. Bis heute hält sich die 1946 von Eugen Kogon – selbst ehemaliger Buchenwald-Häftling – wiederholte Sichtweise der Nazis auf die Häftlinge mit dem grünen Winkel. Sie seien die »übelsten Elemente« gewesen, die »in manchen Lagern (…) eine beherrschende Stellung innehatten und sie gegen die übrigen Gefangenen schwer missbraucht haben«. »Verwandt mit den Kriminellen, wenn auch weit harmloser« seien die »sogenannten Asozialen« gewesen.
Der vorliegende, von Frank Nonnenmacher herausgegebene Band, versammelt die Beiträge von 20 Autorinnen, die neben der Geschichte ihrer Angehörigen auch die eigene Spurensuche dokumentieren. »In allen beschriebenen Fällen spielen die sozialen und ökonomischen Verhältnisse eine entscheidende Rolle für normabweichendes Verhalten«, schreibt Nonnenmacher einleitend. Der emeritierte Professor für Politikdidaktik an der Universität Frankfurt am Main erfuhr selbst erst mit 25 Jahren, dass sein Onkel Ernst, der Halbbruder seines Vaters, im KZ Flossenbürg als »Asozialer« und »Berufsverbrecher« »durch Arbeit vernichtet« werden sollte.
Nonnenmacher engagiert sich seit vielen Jahren für »das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus« und gründete im Januar 2023 den Verband Vevon. Einen nicht-diskriminierenden Begriff für diese Opfergruppe gebe es bisher nicht. Er trieb maßgeblich den Bundestagsbeschluss voran, ist aber mit dem Stand seiner Umsetzung nicht zufrieden. Es fehle eine systematische Forschung sowie ein Mahnmal mit zentralem Gedenkort.
Wer waren die »verleugneten Opfer« ? Warum wurden sie in KZ verschleppt? Die Historikerin Julia Hörath gibt eine präzise Einführung rechtlicher Konstrukte und kriminologischer Diskurse. Die Idee, dass Kriminalität und abweichendes Sozialverhalten erblich bedingt sei, ist nicht nazispezifisch. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts und nicht nur in Deutschland entwickelten Polizei, Wohlfahrt und Justiz, fußend auf zeitgenössischen »Verbrechertypologien«, u. a. des italienischen Arztes Cesare Lombroso, stereotype Täterkategorien. »Asoziale Trinker«, »Berufsabtreiberinnen«, »Gewohnheitsbettler«, »Sittendirnen« u. v. m. galten als »asoziale Persönlichkeiten«, die genetisch mit dem »Hang zum Verbrechen« veranlagt seien. Nicht mehr die Tat und ihre Bestrafung sollten folglich im Mittelpunkt staatlicher Intervention stehen, sondern die »Täterpersönlichkeit«, auf die präventiv und erzieherisch eingewirkt werden müsse.
In mehreren Schritten
Die sogenannten Asozialen gehörten überwiegend zu den traditionellen sozialen Randgruppen und zur Klientel der Disziplinar- und Fürsorgeeinrichtungen, so Hörath. Als ihr zentrales Merkmal galt »Arbeitsscheu«, die sich nachweisen ließ, im Unterschied zu dem angeblich »degenerierten Erbgut« der »Sozialschädlinge«. Bei Frauen kam »häufig wechselnder Geschlechtsverkehr«, der Sittlichkeit und »Erbgesundheit« bedrohe, hinzu. Das sogenannte Berufsverbrechertum war klarer definiert. Es waren Menschen, die mehrere Haftstrafen, meist wegen Eigentumsdelikten, abgesessen hatten. Auch das galt als erblich bedingt.
Mit der am 28.2.1933 am Tag nach dem Reichstagsbrand von Reichspräsident Hindenburg erlassenen Notverordnung »Zum Schutz von Volk und Staat« wurden Grundrechte außer Kraft gesetzt und Menschen ohne Anklage und Beweise in »Schutzhaft« genommen. Das betraf sehr bald nicht nur politische Gegner, sondern auch die als »asozial« Stigmatisierten. Rechtsgrundlage für KZ-Einweisungen wurde die polizeiliche »Vorbeugungshaft« für sogenannte Gewohnheitsverbrecher sowie die unbefristete »Sicherungsverwahrung« im Anschluss an eine bereits verbüßte Haftstrafe. Die Verschärfung der Gesetze, die Erweiterung des Kreises der Verfolgten und die regionale Ausweitung auf die besetzten Gebiete erfolgte in mehreren Schritten, wobei es aber »keine kumulative Einbahnstraße stetiger Radikalisierung« gab, wie Hörath betont. Das »Himmler-Thierack-Abkommen« vom 18. September 1942 regelte die Aufgabenteilung zwischen Reichsjustizministerium und dem obersten Polizeichef Heinrich Himmler: »Asoziale Elemente aus dem Strafvollzug, Juden, Zigeuner, Russen, Ukrainer (sollen) an den Reichsführer SS zur Vernichtung durch Arbeit ausgeliefert werden.«
Emil Baum, geboren 1904, war einer von ihnen. Als er sechs Jahre alt war, starb die Mutter. Nach der Ausbildung als Melker war er überwiegend arbeits- und obdachlos. Er verliebte sich, das junge Paar bekam eine Tochter. Armut und der Kampf ums Überleben prägten den Alltag. Baum beging Diebstähle, Kartoffeln, Kohle und dergleichen. Mehrfach erwischt wurde er schließlich verhaftet, wegen »schwerem Diebstahl im Rückfall« zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt, die er in verschiedenen Arbeitslagern im Emsland verbüßen musste. Danach kehrte er zu seiner Familie zurück, begann sofort zu arbeiten, zusätzlich benötigte die Familie Fürsorgeunterstützung. Am 15. Juni 1938 wurde Baum bei der Aktion »Arbeitsscheu Reich« von der Gestapo verhaftet und ins KZ Dachau verschleppt. Am 21. März 1939 kam er mit circa 700 anderen ins KZ Mauthausen. »Hier gibt es nur Lebende, die arbeiten, oder die Toten. Die Kranken müssen sterben!« wurde ihm bedeutet. Schwerstarbeit im lagereigenen Steinbruch, kaum zu essen, täglich Tritte, Schläge und Schikanen: Am 11. Januar 1940 starb Emil Baum – offiziell an »Herz-Kreislauf-Schwäche«.
Grün oder schwarz
Ganz ähnlich verlief das Leben von Ernst Nonnenmacher, geboren 1908 als Sohn einer »ledigen« Mutter. Er sorgte von Kind an durch Stehlen und »Organisieren« von Lebensmitteln und Kohle für das tägliche Auskommen. Auch er schlug sich als junger Mann als Wanderarbeiter durch. Wegen verschiedener Diebstähle und dem Vorwurf der Zuhälterei – die Frau, mit der er zusammenlebte, besserte die Kasse durch gelegentliche Prostitution auf – wurde er verhaftet und am 16. Mai 1939 zu zwei Jahren Haft verurteilt. Gleich nach der Entlassung wurde er auf dem Arbeitsamt von der Kripo festgenommen und ins KZ Flossenbürg verschleppt. Dort bekam der den schwarzen Winkel, stand somit in der Lagerhierarchie ganz unten. Einer der Funktionshäftlinge, ein Bekannter, verschaffte ihm dann den grünen Winkel: »Ernst, als Schwarzer gehst du hier ein.« Im November 1942 kam er ins KZ Sachsenhausen, weil er Körbe flechten konnte. »Das rettete ihm das Leben«. Selbst sein Mithäftling Otto Auerswald, der inzwischen in Zwickau in der sowjetischen Besatzungszone Polizeipräsident geworden war, konnte später nicht erwirken, dass er als »Opfer des Faschismus« anerkannt wurde. »In dieser Situation können wir es uns nicht erlauben, uns nachsagen zu lassen, dass wir uns jetzt mit Kriminellen auf eine Stufe stellen.«
Wie eine verschwiegene und verdrängte »Leiche im Keller« einer Familie weiter wirken kann, zeigt die Geschichte von Irmgard Heiss, deren Großnichte unter dem Verdikt womöglich ererbter schlechter Persönlichkeitseigenschaften aufwuchs, wie sie selbst schreibt. Irmgard Heiss starb 1944 in der Psychiatrie. Woran sie litt, bleibt in den Krankenakten völlig unklar. Sie gehörte zu denjenigen Frauen, die gegen Sittlichkeitsnormen und die gängige Auffassung von einem »normalen« Frauenleben verstoßen hatten und deswegen verfolgt wurden.
Der Deutsche Bundestag hat 2020 festgestellt: »Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält oder ermordet.« Inzwischen äußerten Studierende der Universität Wuppertal bei der Konzeption einer Erinnerungsstätte des KZ Kemna im Juni 2023 die Überlegung, ob nicht Kommunisten doch zu Recht in KZ gesperrt wurden, sie seien ja Gegner der Demokratie gewesen. Und: Die AfD hat dem Bundestagsbeschluss nicht zugestimmt.
Frank Nonnenmacher (Hg.): Die Nazis nannten sie »Asoziale« und »Berufsverbrecher«. Verfolgungsgeschichten im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2024, 372 Seiten, 29 Euro
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