Die Hölle von Dora
Von Ronald WeberIm Sommer 1943 errichten die Nazis in der Nähe von Nordhausen ein Außenlager des KZ Buchenwald. An die 10.000 Menschen mussten unter dem Berg Kohnstein in ehemaligen Stollen eine Raketenfabrik aufbauen. Die von den Faschisten als »Wunderwaffe« gepriesene »V 2«-Rakete wurde hier produziert. Die Bedingungen waren grausam. Anfangs gab es keine Baracken, die Häftlinge mussten schlafen, wo sie arbeiteten: unter Tage. Monatelang sahen sie kein Tageslicht. Latrinen waren nicht vorhanden. Feuchter Gesteinsstaub legte sich auf die Lungen der Zwangsarbeiter. Die Todesrate war enorm hoch. Von den 60.000 Häftlingen starb ein Drittel. »Enfer de Dora«, die Hölle von Dora, so bezeichneten französische Überlebende später ihre Erfahrungen in dem ab Oktober 1944 als eigenständiges KZ Mittelbau betriebenen Lager.
Eine Art Kollektivreport
Deren Erinnerungen lassen sich nun in dem erstmals 1947 erschienenen Band »Témoignages strasbourgeois« auf deutsch nachlesen. Warum Strasbourger Zeugnisse? Weil es sich bei den Berichten um eine Art Kollektivreport vormaliger Angehöriger der Université de Strasbourg handelt, die zwischen 1943 und 1945 in verschiedene Konzentrationslager deportiert worden waren. Die Strasbourger Universität, an der in den 1920er Jahren die einflussreiche Annales-Schule um Lucien Febvre und Marc Bloch entstand, wurde 1939 nach Clermont-Ferrand ins Zentralmassiv verlegt. Große Teile des Lehrkörpers und der Studentenschaft schlossen sich Widerstandsgruppen an. Als die Nazis im November 1942 in die Zone libre einmarschierten, in der Clermont-Ferrand bis dahin gelegen hatte, kam es zu Razzien und Festnahmen, waren die Faschisten doch davon überzeugt, dass die Stadt »das hauptsächliche Zentrum der antideutschen Bewegung« in Frankreich sei – und zwar aufgrund der Universität; die eigentliche Bevölkerung kollaborierte eifrig mit den Nazis, wie Marcel Ophüls Dokumentarfilm »Das Haus nebenan – Chronik einer französischen Stadt im Kriege« von 1969 verdeutlicht.
Nach der Heimkehr der Überlebenden machte sich die geisteswissenschaftliche Fakultät der Universität Strasbourg, die nach der Befreiung vom Faschismus wieder ins Elsass zurückkehrte (wo die Nazis 1941 die »Reichsuniversität Straßburg« gegründet hatten), an die Aufarbeitung. 1947 legte die Fakultät eine Chronik und eine Denkschrift mit Nachrufen der von den Nazis ermordeten Professoren und Dozenten vor. Zeitgleich erschienen die »Témoignages strasbourgeois«, die in Frankreich breit rezipiert wurden und in einer Reihe mit anderen, frühen Veröffentlichungen über die Wirklichkeit der Konzentrationslager wie David Roussets »L’Univers concentrationnaire« (1946) stehen, das seit 2020 auf deutsch vorliegt.
Professioneller Blick
Die in Auswahl vorliegenden Berichte – das französische Original umfasst 40, die deutsche Übersetzung lediglich 14 – geben Einblick in das Leben in den Lagern Buchenwald und Mittelbau-Dora: von der Ankunft über die Zwangsarbeit bis hin zu Befreiung. Einzelne Kapitel schildern die Eindrücke der Überlebenden von der Krankenstation in Buchenwald, den Blocks 46 und 50, wo SS-Ärzte Häftlinge als Versuchsobjekte quälten, oder vom sogenannten Kleinen Lager in Ellrich, einem Nebenlager von Mittelbau-Dora, wo ein besonders brutales Regime herrschte.
Von besonderem Interesse sind die Berichte, deren französisches Original seit langem als Quelle von der Forschung genutzt wird, durch den professionellen Blick ihrer Urheber (als Mediziner, Chemiker oder Physiker) und die zeitliche Nähe zum Beschriebenen; manche Berichte sind gar im Präsens verfasst. Sie geben einen Einblick in das Terrorregime der Nazis in den Konzentrationslagern und das Leben der Häftlinge, das der Chemiker Albert Kirrmann als »randvoll mit Widersprüchen« beschreibt.
Témoignages strasbourgeois. Berichte französischer Überlebender der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora. Aus dem Französischen von Karola Bartsch. Hrsg. v. Anett Dremel, Michael Löffelsender u. Jens-Christian Wagner. Wallstein-Verlag, Göttingen 2024, 389 Seiten, 22 Euro
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