Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2024
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Aus: Literatur (Buchmesse Frankfurt), Beilage der jW vom 16.10.2024
Finger weg!

So herb wird der Bücherherbst

Die Tage sind kalt und nass und auch in der Leseecke wird es ungemütlich: Fünf Neuveröffentlichungen, zu doof, um wahr zu sein
Von Kai Köhler
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Jedes Jahr wieder ist es schwierig, in der Unmenge an Neuerscheinungen das passende Buch zu finden. Für ausführliche Rezensionen mangelt es oft an Platz. Die folgenden kurzen Hinweise gelten Veröffentlichungen, die gleichwohl nicht unbeachtet bleiben sollten: einem Sachbuch, zudem vier Romanen.

Beängstigend

Andere Staaten haben einen Geheimdienst, Deutschland aber hat einen Verfassungsschutz. Mit gutem Grund, denn schließlich ist es das Grundgesetz, das unser aller Zusammenleben in Frieden und Freiheit sicherstellt. Doch kann der Verfassungsschutz wirklich das Versprechen einlösen, das in seinem Namen liegt? Nämlich, unsere Werte vor ihren zahlreichen Feinden schützen? Nach der Lektüre dieser geradezu beängstigenden Studie wird man daran zweifeln, denn die Extremisten wissen sich zu tarnen.

Dabei würdigt Traugott Helfer durchaus, was es an zukunftsweisenden Ansätzen schon gibt. Ein wichtiger Schritt wurde geleistet, indem die Delegitimierung Israels als antisemitisch bestimmt wurde. Helfer schließt daraus richtig, dass auch die Kritik an Verbündeten Israels notwendig antisemitisch ist. Dies beweist, dass die Extremisten von links und rechts, die offenen wie die ­verdeckten, unmittelbar in der Nachfolge des Nationalsozialismus stehen. Sie alle sind daran erkennbar, dass sie Verschwörungstheorien vertreten, nämlich behaupten, es gebe politische Vorgänge von Bedeutung, die der Öffentlichkeit verborgen blieben. Damit zeigt sich eine weitere ungebrochene Linie von antisemitischen Verschwörungstheorien zum vorgeblich »kritischen Bewusstsein« von heute. Entsprechend schlägt Helfer vor, »antisemitisches Misstrauen« als Beobachtungstatbestand einzuführen.

»Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates« zu erfassen, erlaubt bereits heute die Kontrolle großer Gruppen von Gefährdern. Doch drohen ausgerechnet die perfidesten Verfassungsfeinde durchs Raster zu fallen, nämlich diejenigen, die sich für ihr kritisches Treiben auf die Werte der Verfassung berufen. Hier könnte Helfers Begriff des »staatsgefährdenden Verfassungsmissbrauchs« Abhilfe schaffen.

Ob damit alle Bedrohungsfelder abgedeckt sind, bleibe dahingestellt. Helfers Vorschläge sind wichtige erste Maßnahmen, um unsere Freiheit zu sichern. Weitere werden folgen müssen.

Traugott Helfer: Unser aller Freiheit. Wer sie bedroht und wie wir sie erhalten. Verlag Offene Gesellschaft, 210 Seiten, 18 Euro

Nominierungen: Demokratiepreise der Friedrich-Ebert-, Konrad-Adenauer-, Hanns-Seidel-, Friedrich-Naumann- und Heinrich-Böll-Stiftung; Buchpreis der Antonio-Amadeu-Stiftung (Sparte Sachbuch)

Triggerwarnung: Verfassungsfeinde überall

Achtsam

Das vorliegende Buch verspricht nicht weniger als eine Revolution des Horror-Splatter-Genres. Bis jetzt mussten sich die Verfasser*innen vorwerfen lassen, durch drastische Gewaltdarstellungen einfühlsame Menschen vom Genuss ihrer Werke auszuschließen. Dank eines Sensitivity-Read­ing-Teams ist nun endlich ein inklusiver Roman entstanden, der Lesefreude für alle ermöglicht.

Eine diverse Gruppe US-amerikanischer Jugendlicher will den High-School-Abschluss in einer abgelegenen Gegend feiern. Sie besteht aus Menschen unterschiedlicher »Rassen«, Geschlechter und sexueller Orientierungen, die ihre Differenzen bis zum Ende vorurteilsfrei und achtsam austragen. Bereits an der Tankstelle neben der Einfahrt zum Zielort kommt es aber zu einer ersten Konfrontation. Einheimische Halbstarke pöbeln die Gäste an und nehmen eine bedrohliche Haltung ein, ein Pitbull knurrt. Mit überzeugenden Argumenten entschärfen die Jugendlichen die Situation und verabreden sich mit den Dörflern zu einem gemeinsamen Antiaggressionstraining für den folgenden Tag.

Die eigentliche Herausforderung indessen wartet in der Nacht darauf in der Hütte, in der die Jugendlichen zu entspannen hofften. Hier treiben blutrünstige Untote ihr Unwesen. Mit ihnen ins Gespräch zu kommen, erweist sich als außerordentlich schwierig. Zuletzt aber gelingt es, eine konstruktive Diskussion über die Daseinsberechtigung verschiedener Lebensformen und ihrer jeweiligen Bedürfnisse zu führen. Sogar das Grünschleimmonster verspricht schließlich, künftig einen Warnruf ertönen zu lassen, um seine Opfer nicht zu erschrecken, bevor es sich von der Decke herabtropfen lässt und in ihre Atemwege eindringt.

Luciano [Negri] Colorato: [Die Schädelknacker vom Crying Creek] Auch Untote sind Menschen. Verlag [Der Horror] Harmonie, 160 Seiten, [16,50 Euro] freiwillige Spende

Nominierungen: Inklusionspreis der Mahatma-Gandhi-Stiftung

Triggerwarnung: Durch Rückübersetzung der mit »A*«, »M*« und »S*« abgekürzten Beschimpfungen in die vollständigen Wörter können sensible Leser*innen dauerhaft traumatisiert werden

Cool

Das Jugendbuch der Stunde. Aufgeweckte Girls und Boys des Erwin-Rommel-Gymnasiums in einer schwäbischen Kleinstadt wollen etwas für den Frieden tun. Als sie zufällig erfahren, wer der Namensgeber ihrer Schule war, erkennen sie sofort, dass eine Neubenennung fällig ist. Sie knüpfen Verbindungen zur älteren Generation der Friedensbewegten, erhalten wertvolle Ratschläge. Schnell stellen sich erste Erfolge ein: Die Öffentlichkeit wird aufmerksam, die Schulleitung signalisiert Gesprächsbereitschaft. Aber dann merken die ­Jugendlichen, dass der Lehrer Georg, der sich so hilfsbereit gab, erst vor drei Jahren bei einer Demonstration gegen Coronamaßnahmen gesehen wurde. Weitere Schläge treffen die Gruppe selbst: Hat Mascha, die engagierte Klassensprecherin, wirklich keinen Kontakt mehr zu ihrer Tante, die für die AfD kandidiert hat? Warum verteidigt sie dann Georg? Als wie aus dem Nichts ein Familienfoto neuen Datums auftaucht, das sie mit der Tante zeigt, ist Mascha der Lüge überführt. Nun kochen die Emotionen hoch. Mascha ist doch immer die gute Freundin gewesen! Gabi hat sie sogar geliebt, es gab einen Kuss und noch mehr, wird sie sich losreißen können? Der rettende Herr, der plötzlich auftaucht, erklärt den Girls und Boys, dass es mit Verschwörungstheoretikern kein Zusammen geben darf, und auch mit all denen nicht, die rechts sind, oder auch nur rechtsoffen. Er stellt den Jugendlichen zudem die Software zur Verfügung, die sie auf ihren Smartphones installieren müssen, um sie vor Angriffen russischer und chinesischer Hacker zu schützen. Und auch die Umbenennung der Schule gelingt wie von Zauberhand. Nun wissen alle Schülerinnen und Schüler des Reinhard-Gehlen-Gymnasiums, die durch Enttäuschung klug gewordene Gabi vornweg, wer ihre Freiheit bedroht.

Violanta Victoria Narcota: Falsche Freunde. Geeignet ab 12 Jahre. Verlag Offene Gesellschaft, 168 Seiten, 20 Euro

Nominierungen: Buchpreis der Antonio-Amadeu-Stiftung (Sparte Belletristik); Förderpreis der Thomas-Haldenwang-Stiftung

Triggerwarnungen: Keine

Krass

Empowerment pur! Als die schwarze Aktivistin Imani in eine Kontrolle durch rassistische Polizisten gerät und zudem von ihnen sexuell belästigt wird, entschließt sie sich zur Gegenwehr. Mit Unterstützung zuverlässiger Freund*innen entführt sie den Haupttäter, Polizeiobermeister Adolf Wachtmann. Sie erfährt viel Unterstützung durch die Community, wechselt von Versteck zu Versteck, wodurch wir die soziokulturellen Eigenheiten verschiedener Bochumer Stadtteile kennenlernen, und injiziert ihrem Gefangenen Hormone. Ein dramatischer Wettlauf beginnt: Findet die Polizei Wachtmann, bevor Adolf zu Adolfine wird? Wird er gar in einem Zwischenstadium weiterleben müssen? Greift die Große Mutter rettend ein, versetzt sie Imani Sekunden vor dem Zugriff der Staatsmacht in die afrikanische Steppe, wo Tier und Mensch harmonisch zusammenleben, Jahrhunderte vor oder nach der Kolonialisierung?

Ngogo al Bongo (Kampfname): Fuck it! Eine Jagd durch Bochum. Verlag 13. Februar, 212 Seiten, 22 Euro

Nominierungen: Keine

Triggerwarnungen: Gewalt, Polizei, Beschimpfungen; das Übliche halt

Mutig

Der Verfasser dieses Romans, hinter dessen Pseudonym sich ein bekannter Politiker verbergen soll, führt uns unmittelbar in das Geschehen an der ukrainischen Front. Wir erleben das dramatische Geschehen aus der Sicht einer heroischen Elitefreiwilligeneinheit, die stets an den gefährlichsten Brennpunkten eingreift. Russische Invasoren werden zerfetzt, verbrennen oder winseln feige um Gnade. Meter um Meter wird die Heimaterde befreit. Im Verlauf der Handlung erhalten wir Antworten auf die wichtigsten Fragen: Warum dürfen uns Hakenkreuzabzeichen nicht irritieren? Welche Waffen müssen nächstens geliefert werden? Wie wird der gefangene Russe, hähä, regelbasiert überzeugt, die aktuellen Stationierungspunkte seiner Artillerie auszuplaudern? Und welche Rolle spielt bei all dem die glutäugige Ljudmilla?

Anton Reithofer: Jeder Schuss ein Russ. Landser-Verlag, 64 Seiten (doppelspaltig), 9,99 Euro

Nominierungen: Friedenspreis der Heinrich-Böll-Stiftung, Friedenspreis des deutschen Buchhandels, Stepan-Bandera-Medaille mit Schwertern und Eichenlaub

Triggerwarnung: Russen treten auf

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

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