Zum Schweigen verdammt
Von Yaro Allisat
Zwei Kilometer läuft man vom Bahnhof des brandenburgischen Orts Fürstenberg an der Havel auf dem Weg, den die Häftlinge des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück getrieben wurden. Zunächst geht es quer durch den Ort, vorbei an Gärten und Einfamilienhäusern, auf deren Fensterbänken Geranien blühen. Dann kommt man durch einen Nadelwald. Rechts blitzt der See durch die Bäume, in den mutmaßlich die Asche Tausender im KZ Ermordeter gekippt wurde und wo jetzt Touristenboote fahren. Geradezu tauchen die Häuser der Wärterinnen und die Kommandantur des KZ Ravensbrück auf.
Auch Mädchen wurden auf diesem Weg geführt, in das Jugend-KZ und späteren Vernichtungsort Uckermark. Das KZ wurde im Frühjahr 1942 auf Weisung des »Reichsführers-SS«, Heinrich Himmler, von Ravensbrück-Häftlingen errichtet. Es unterstand der Reichszentrale zur Bekämpfung der Jugendkriminalität und war integraler Teil des damaligen sogenannten Jugendfürsorgesystems. Rund 1.200 Mädchen und junge Frauen waren bis 1945 in dem damals »Jugendschutzlager« genannten KZ inhaftiert und mussten Zwangsarbeit leisten. Bis heute ist das System der »Jugendfürsorge« unter den Nazis nicht aufgearbeitet, die meisten Überlebenden schweigen.
Der Gedenkort Uckermark liegt direkt hinter den Toren von Ravensbrück. Nach der Befreiung wurde der Ort zum Militärstützpunkt der Roten Armee. Die Überreste der Baracken liegen unter Betonplatten begraben, das Gelände ist von Wald, Gräsern und Büschen überwuchert. Heute sieht man hier nur, was die »Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark« an Infotafeln, Grundrissen der Baracken und des Lagerhauptwegs errichtet hat.
Jung und »asozial«
Eine der Inhaftierten war Maria Potrzeba. Sie wurde 1927 in Asbeck im Münsterland geboren. Mit zwölf Jahren wurde sie Vollwaise und versorgte ihre jüngeren Geschwister. Eines Abends, Maria machte gerade Pfannkuchen, stand die Gestapo vor der Tür und nahm sie mit. Unter Schlägen warfen sie der 14jährigen vor, eine »Liebschaft« mit den beiden polnischen Zwangsarbeitern Florian Spionska und Josef Goryl zu führen, mit denen sie befreundet war. Sie habe nicht verstanden, was man überhaupt von ihr wolle, erzählt Maria in der Dokumentation mit dem Namen »… dass das heute immer noch so ist – Kontinuitäten der Ausgrenzung«. Zuerst wurde sie wegen des Vorwurfs der »sexuellen Verworfenheit« in ein Jugendheim in Dortmund und schließlich 1943 nach Uckermark deportiert. Spionska und Goryl wurden im Wald bei Asbeck öffentlich gehängt.
Maria ist eine der wenigen, die auch dank der Arbeit der Initiative für einen Gedenkort und einer Asbecker Historikerin über ihre Geschichte spricht. Erst 1970 wurde das ehemalige »Jugendschutzlager Uckermark« als Konzentrationslager anerkannt. Inhaftierte waren da bereits an den Folgen der Lagerzeit gestorben. Laut der Initiative, die die umfassendsten Recherchen und Zeitzeugenberichte zum KZ Uckermark veröffentlicht hat, ist der Grund für die geringe Bekanntheit und die fehlende Aufarbeitung, dass in Uckermark vor allem Jugendliche inhaftiert waren, die als sogenannte Asoziale verfolgt wurden.
Als »asozial« oder »Berufsverbrecher« galt laut dem Grunderlass zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung von 1937, wer »durch gemeinschaftswidriges, wenn auch nicht verbrecherisches Verhalten zeigt, dass er sich nicht in die Gemeinschaft einfügt«. Auch mehrfach Straffällige, Arbeits- oder Wohnungslose wurde von den Nazis in KZ deportiert. Frauen und Mädchen wurde zudem, anders als männlichen Jugendlichen, oft »sexuelle Verwahrlosung« vorgeworfen – ebenjene Häftlingsfrauen, die später auch in Uckermark ein KZ-Bordell für die SS einrichten mussten. »Asozialität« galt in »schlimmen Fällen« als genetisch übertragbar. Soziale Härten in den jeweiligen Biographien wurden von den Nazis rassifiziert, biologisiert, die Menschen ausgelöscht.
Nach Uckermark kam zudem, wem Zugehörigkeit zur Swing-Jugend, Kontakt zu jüdischen Menschen oder Zwangsarbeitern vorgeworfen wurde, wie auch junge slowenische Partisanen oder deren Kinder.
Die Häftlingsgruppe der »Asozialen« verfügte weder in der BRD noch in der DDR über eine Lobby. Erst 2020 wurden sie vom Bundestag als Verfolgte des Hitlerfaschismus anerkannt. Nach der Befreiung erlebten sie weitere Kriminalisierung und Diskriminierung im Jugendhilfesystem bis hin zu Vorwürfen, dass sie selbst die Verantwortung für ihre Internierung trügen. Entmündigte sahen sich nach der Befreiung erneut jenen Vormündern gegenüber, die damals ihre Überstellung in das KZ veranlasst hatten. Der Zusammenschluss »Die Vergessenen« von ehemals als »asozial« Verfolgten bestand ab 1946, wurde jedoch von der US-Militärregierung verboten, aufgrund der Annahme, »Asoziale« und »Berufsverbrecher« seien zu Recht verfolgt worden. Andere Verfolgtenverbände grenzten sich demonstrativ davon ab.
Gewaltvolle Kontinuitäten
Bis in die 1960er Jahre mussten Kinder in staatlichen und kirchlichen Heimen in der BRD Zwangsarbeit leisten. Die Journalistin und RAF-Aktivistin Ulrike Meinhof schrieb in ihren Artikeln von einer »faschistischen Kontinuität« in der Jugendarbeit. »Bettelei«, »Sexarbeit« und »Landstreicherei« blieben bis in die 1970er Jahre kriminalisiert. 2002 wurde bekannt, dass Akten aus dem Jungen-KZ Moringen bis weit in die 1960er Jahre weitergeführt wurden. Für die Täter gab es zum Großteil keine Konsequenzen. Sie blieben weiterhin in der Jugendhilfe oder in anderen Bereichen tätig. Die Heime in der DDR hatten demgegenüber eine sozialistische Umerziehung im Sinne des Volkswohles zum Ziel.
Feministinnen und Kinder der Überlebenden versammelten sich am 13. April 2024 zur jährlichen unabhängigen Gedenkfeier im ehemaligen KZ Uckermark. Organisiert wird das Gedenken von der »Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark«. Dabei soll nicht nur ein Blick in die Vergangenheit, sondern auch auf die Gegenwart geworfen werden. »Wir denken, dass, wenn Leute nicht nur eine Blume hier ablegen, sondern aktiv werden und selbst überlegen können, wie sie gedenken wollen, sie mehr Verantwortung für die Geschichte übernehmen«, so Wiltrut Cordes von der Initiative bei der Gedenkfeier.
Mehrere Jahre lang versuchte die Initiative, dass das KZ Uckermark in den offiziell anerkannten Kreis der NS-Gedenkstätten aufgenommen wird. Heute sind sie nach eigener Aussage auch froh, nicht Teil des große Lücken aufweisenden verstaatlichten Gedenkens zu sein. Sie gestalten dies selbst mit Führungen, Gedenkfeiern und Bau- und Begegnungscamps, bei denen die Gedenkstätte ausgebaut und in Schuss gehalten wird und Austauschmöglichkeiten mit Zeitzeugen geschaffen werden. Das Ziel der Jugendhilfe, wie es mittlerweile benannt wird, ist bis heute gleich geblieben: junge Menschen in Ausbildung und Arbeit zu bringen. Die Erziehung besteht darin, vermeintliche Defizite, die diesem Ziel im Weg stehen, zu beheben. Jugendhilfesystem und Klassengesellschaft sind weiterhin eng miteinander verknüpft; Betroffene sind Gewalt ausgesetzt – sowohl in einer systematisierten Form als auch durch das kaputtgesparte System.
Maria Potrzeba musste zunächst im Steinbruch, später in der Bastelwerkstatt arbeiten. Ende Oktober 1944 wurde sie in ein SS-Kinderheim entlassen. Als sie in ihre Heimatstadt Asbeck zurückkehrte, sah der Dorfvorsteher laut ihrem Bericht bloß auf: »Du lebst auch noch?« soll er gefragt haben. Beim Gang aus der Kirche sei die Dorfgemeinschaft versammelt gewesen, »Polenliebchen« hätten sie gerufen, berichtet Maria. Die meisten Überlebenden schweigen dagegen, weil auch heute nicht als Unrecht anerkannt wird, was sie erlebten. Nur die Biographien zehn Gefangener sind auf der Seite der Initiative Uckermark veröffentlicht – Maria Potrzeba, Hildegard Lažik, Stanka Krajnc Simoneti, Anita Köcke, Irma Trksak, Anni Kupper, Ella Nürnberg, Hilde Reddig, Łucja Barwikowska, Sieglinde Helmsdorf.
»… dass das heute noch immer so ist – Kontinuitäten der Ausgrenzung«: Ein Film der Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark e. V. in Kooperation mit der Österreichischen Lagergemeinschaft, Dokumentarfilm, 60 Minuten, 2016
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