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Betr.: Artikel Unendlicher Krieg

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Als ich von den Begleitumständen/Auflagen zur Freilassung Julien Assanges hörte, musste ich an Bertolt Brechts »Leben des Galilei« denken. Schon möglich, dass der Bezug etwas sehr überhöht ist. Trotzdem. Sevim Dagdelen schrieb als Gastautorin einen Kommentar für die Berliner Zeitung und am 27. Juni einen Kommentar unter dem Titel »Unendlicher Krieg«. Ich bin der Auffassung, dass sich eine Parallele anbietet. Galilei war Mitbegründer der neuzeitlichen exakten Naturwissenschaften und wurde gemeinsam mit Naturforschern wir N. Kopernikus als Universalgelehrter unsterblich.
In Brechts Theaterstück gibt es gegen Schluss einen bewegenden und alles erklärenden Dialog mit seinem Schüler Andrea Sarti. Der gebotene Umfang eines Leserbriefs erlaubt es nicht, das Gespräch an dieser Stelle in voller Länge wiederzugeben. Deshalb verweise ich auf Brechts »Leben des Galilei« (In: Bertolt Brecht: Gesammelte Werke Band 2, Suhrkamp 1967, ab Seite 1337). Galilei wurde bzw. hat sich von der katholischen Kirche zwingen lassen, seinen Forschungsergebnissen und seinen Lehren abzuschwören. Andernfalls drohen ihm Gefängnis, Folter und Tod. Das war der Ausgangspunkt eines Gesprächs mit seinem Schüler, in dem Galilei sagte: »Ich lehrte die Wissenschaft und ich verneinte die Wahrheit.« Andrea: »Das ändert alles. Alles. Sie versteckten die Wahrheit. Vor dem Feind. Auch auf dem Feld der Ethik waren Sie uns um Jahrhunderte voraus.« Galilei: »Erläutere das, Andrea.« Um sich Galileis Widerruf zu erklären, entwickelt Andrea nun eine Theorie, der zufolge Galilei aus Taktik gehandelt habe. Im weiteren Verlauf des Gesprächs bekennt sich Andrea hingebungsvoll zu Galileis Genie im Kampf gegen die Kirche und für die Wissenschaft, die nach ihm auf der These beruht, dass ein lebender Kämpfer mehr bewirken kann, als ein zum Tode Verurteilter. Andrea, im Bemühen die Handlungsweise seines Lehrers richtig zu verstanden zu haben, fährt, sich gleichsam in die Haut seines Lehrers versetzend, fort: »Mit dem Mann auf der Straße sagen wir: Er wird sterben, aber er wird nie widerrufen. – Sie kamen zurück: ›Ich habe widerrufen, aber ich werde leben.‹ –Ihre Hände sind befleckt, sagen wir. Sie sagen: ›besser befleckt als leer.‹«
Das Credo Julien Assanges war stets: Wenn die Lüge den Krieg schafft, kann die Wahrheit dazu dienen, Frieden zu bringen. Zu bedenken gilt aber bis auf weiteres, was der englische Ökonom Alan Freeman sagte: »Es gibt da im Englischen so eine Redensart: ›Eine Lüge kann dreimal um die Welt reisen, bevor die Wahrheit sich auch nur die Schuhe zugeschnürt hat.‹« Der Widerruf bzw. das Schuldeingeständnis Galileo Galileis hat die Wahrheit für Jahre blockieren können. Aber letztlich nur für eine begrenzte Zeit. Das Unbehagen der Solidaritätsbewegung für den sogenannten Freilassungs-Deal ist nachvollziehbar. Dieser kann derzeit noch als Ausdruck einer Machtdemonstration der USA ausgelegt werden. Um der unmenschlichen Behandlung zu entgehen, der Assange jahrelang ausgesetzt war, musste er sich schuldig bekennen. Ob damit aber der Wunsch der USA (und auch der anderen NATO-Staaten) in Erfüllung gehen wird, die Rede- und Meinungsfreiheit weiter einzuschränken, bleibt abzuwarten. Noch haben die Verbrechen der NATO, ihre Kriege und Stellvertreterkriege keine wirklich durchschlagende Resonanz im öffentlichen Raum erfahren. Julien Assanges Beitrag und seine Hoffnung, dass sich das ändern wird, ist nicht hoch genug zu würdigen. Deshalb ist er »ein Held unserer Zeit« (Sevim Dagdelen).

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Unendlicher Krieg

Julian Assange ist frei. Gastkommentar

Als Julian Assange australischen Boden betritt, reckt er die Faust nach oben. Julian Assange ist frei. Julian ist unbesiegt. Die Farce der US-Justiz mit dem Zwischenstopp auf den Inseln der Nördlichen Marianen verweist allein auf den fortgesetzten Verfolgungsanspruch der US-Behörden gegenüber kritischen Journalisten. Man sollte sich immer daran erinnern: Julians Vergehen ist die Veröffentlichung von US-Kriegsverbrechen. So begann sein Martyrium. Eine Schmutzkampagne zielte auf seinen moralischen Tod, die erst durch das furchtlose Engagement des UN-Sonderberichterstatters für Folter, Nils Melzer, in sich zusammenbrach. Erst Hausarrest, das Exil in der ecuadorianischen Botschaft und dann fünf Jahre Folter im als britisches Guantánamo berüchtigten Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh sollten Julian brechen. Neben der internationalen Kampagne für seine Freilassung ist es die Gelegenheit vor den US-Präsidentschaftswahlen, die Joseph Biden veranlasste, im Umfragehintertreffen gegenüber Donald Trump ein Signal an progressive Wähler auszusenden und Julian nicht weiter einzukerkern.

Am Verfolgungsanspruch aber wird festgehalten, und da sollte man sich keinen Illusionen hingeben. US-Präsident Biden bekräftigt mit dem Schritt sein Einverständnis und seine Unterstützung für die imperialen US- und NATO-Angriffskriege in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Kriegsverbrechen zu vertuschen, gehört dabei zum Handwerkszeug des Imperiums, denn wer Kriegsverbrechen veröffentlicht, zerstört das legitimatorische Fundament der verbrecherischen US-Kriege und gilt der Gewaltpolitik Washingtons per se als Spion, als Agent einer fremden Macht. Insofern war die politische Verfolgung nach dem Espionage Act untrennbarer Bestandteil ruchloser Gewaltpolitik.

Der unendliche Krieg, ob als Stellvertreterkrieg oder mit eigenen Soldaten in Szene gesetzt, ist das Mittel der US- und NATO-Politik schlechthin. Die Lüge geht ihm voraus und begleitet ihn unablässig. Mythen und Nebelschleier dienen zur moralischen Absicherung und Rechtfertigung eines sozialen Krieges gegen die eigene Bevölkerung, der mit den verbrecherischen Kriegen verbunden ist. Julians Credo dagegen war und ist stets: Wenn die Lüge den Krieg schafft, kann die Wahrheit dazu dienen, Frieden zu bringen.

Die Freilassung Julian Assanges ist ein glücklicher Moment. Zugleich gilt, was Walter Benjamin einst über den permanenten Krieg sagte: »Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben, die Regel ist.« Die Freiheit von Julian Assange ist die Freiheit, die noch erkämpft werden muss.

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