75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Sa. / So., 06. / 7. Juli 2024, Nr. 155
Die junge Welt wird von 2836 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €

Leserbrief verfassen

Betr.: Artikel »Wegen der Besatzung ist die Familie das Sicherheitsnetz«

Artikel »»Wegen der Besatzung ist die Familie das Sicherheitsnetz«« einblenden / ausblenden

»Wegen der Besatzung ist die Familie das Sicherheitsnetz«

Westjordanland: Zirkusschule will jungen Palästinensern Hoffnung und Rückzugsraum geben. Ein Gespräch mit Mohammad Rabah

Sie leiten die Palestinian Circus School im von Israel besetzten Westjordanland. Was genau bietet eine Zirkusschule jungen Menschen unter diesen Bedingungen?

Zirkus und andere Künste sind ein sehr gutes Mittel, um mit jungen Menschen, Kindern und der Gemeinschaft zu arbeiten. Im palästinensischen Kontext ist es einer der seltenen Räume für junge Menschen geworden, in dem sie auf ungezwungene Weise etwas über sich selbst lernen und versuchen können, den Status quo, in den sie hineingeboren wurden, in Frage zu stellen. Balancieren, Clowning, Jonglage, Akrobatik: Alle diese Darbietungen ermöglichen es unterschiedlichen Menschen, sich zu beteiligen, ohne bewertet zu werden. Sie entscheiden, was am besten passt, kommen als Kollektiv zusammen und gestalten die Shows.

Ist Zirkus also ein Mittel, die Besatzung zu bekämpfen?

Nicht nur die Besatzung, sondern Ungerechtigkeit im allgemeinen. Unterdrückung kommt auf unterschiedlichen Wegen: durch das Patriarchat, toxische Männlichkeit sowie einige traditionelle und kulturelle Aspekte. Die Älteren nehmen jungen Mädchen ihre Lebensentscheidungen ab, zum Beispiel, was sie studieren, wen sie heiraten und wo sie leben sollen. Im Zirkus gibt es dagegen kein Richtig und Falsch, sondern eine Perspektive, das Ausprobieren und die Wahl des Besten für einen selbst.

Was sind die größten Herausforderungen?

Wie jede andere palästinensische Organisation, müssen wir unter den Bedingungen einer militärischen Besatzung arbeiten, die versucht, Menschen zu vertreiben, ihr Land zu stehlen und sie gewaltsam zu unterdrücken. Wenn wir mit einer Gruppe junger Menschen arbeiten und einer von Israelis getötet wird, werden Hoffnungen der ganzen Gruppe, der Familie und Freunde dieser einen Person zerstört. Unsere Arbeit ist nichts im Vergleich zur Realität. Wenn diese Kinder nach Hause gehen, sehen sie oft kein Licht am Ende des Tunnels. Das ist die größte Herausforderung und die größte Katastrophe.

Wie sieht diese Realität aus?

Die Israelis zwingen uns eine Realität auf, in der wir auf kleinen Inseln leben, die geographisch nicht miteinander verbunden sind, wegen der Siedlungen, der Kontrollpunkte, der Apartheidmauer. Aufgrund der Besatzung ist die Familie das einzige Sicherheitsnetz. Deshalb wollen viele nicht mit den Traditionen der Familie in Konflikt geraten. Man würde sozial sehr zerbrechlich sein, auf der Straße landen und angegriffen werden.

Und wie ist die wirtschaftliche Situation der jungen Menschen bei Ihnen?

Die Israelis kontrollieren unser Land, unseren Boden, den Luftraum und das Wasser. Ein Siedler kann in den Bergen bei Ramallah eine Fabrik bauen, 500 Palästinenser unter miserablen Bedingungen beschäftigen und ihnen dann die Produkte wieder verkaufen. Viele junge Leute, die die Uni abschließen, wollen das Land verlassen, um im Ausland Arbeit zu finden und die Familie zu unterstützen. Die jungen Menschen, mit denen wir arbeiten, wollen eine Ausbildung machen, aber sie werden wahrscheinlich arbeitslos oder als billige Arbeitskraft für den israelischen Markt arbeiten.

Der Koordinator für Ihr Sozialprogramm, Mohammad Abu Sakha, wurde im Juni 2023 von der israelischen Armee verhaftet. Warum?

Er hat eine Show kreiert, in der zehn Kinder mit geistigen Behinderungen mitspielen. Die erste Aufführung fand am 7. Juni 2023 statt, am 9. Juni wurde er verhaftet. Er befindet sich seitdem in Verwaltungshaft, was bedeutet, dass sie nichts gegen ihn in der Hand haben. Die Israelis haben ein System geschaffen, mit dem sie Palästinenser grundlos verhaften können, sogar Kinder. Bei Abu Sakha gibt es keinen schriftlichen Grund, den sein Anwalt oder er selbst kennen. Er ist ein sehr friedlicher Mensch, der sich die meiste Zeit auf seine Arbeit im Zirkus konzentriert. Die Israelis setzen verschiedene Mechanismen zur Bestrafung von Palästinensern ein, und die Verwaltungshaft ist eines ihrer Mittel. Aber ich bin sicher, dass Abu Sakha im Gefängnis einige Zirkusworkshops gibt.

Wie lässt sich die Situation verändern?

Wir brauchen internationale Unterstützung, um Druck auf Politiker und Israel auszuüben sowie Sanktionen zu verhängen, andernfalls werden sie immer so weitermachen wie bisher. Israel muss für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.

Leserbriefe müssen redaktionell freigeschaltet werden, bevor sie auf jungewelt.de erscheinen. Bitte beachten Sie, dass wir die Leserbriefe Montags bis Freitags zwischen 10 und 18 Uhr betreuen, es kann also einige Stunden dauern, bis Ihr Leserbrief freigeschaltet wird.

Sie erklären sich damit einverstanden, dass wir dessen Inhalt ggfls. gekürzt in der gedruckten bzw. Online-Ausgabe der Tageszeitung junge Welt und in sog. sozialen Netzwerken wiedergeben können. Es besteht kein Anspruch auf Veröffentlichung. Die junge Welt behält sich Kürzung Ihres Leserbriefs vor.

Bitte beachten Sie unsere Netiquette (einblenden / ausblenden)

Netiquette

Liebe Leserin, lieber Leser,

bitte beachten Sie die folgenden Hinweise für Ihre Beiträge zur Debatte.

Ihr Leserbrief sollte sich auf das Thema des Artikels beziehen. Veröffentlicht wird Ihr Beitrag unter Angabe Ihres Namens und Ihres Wohnortes. Nachname und Wohnort können abgekürzt werden. Bitte denken Sie daran, dass Ihr Text auch nach Jahren noch im Internet auffindbar sein wird. Wir behalten uns eine redaktionelle Prüfung vor, ein Anspruch auf Veröffentlichung besteht nicht.

Für uns und unsere Leser sind Ihre eigenen Argumente interessant. Texte anderer sollen hier nicht verwendet werden. Bitte bleiben Sie auch im Meinungsstreit höflich. Schmähungen oder Schimpfwörter, aggressive oder vulgäre Sprache haben hier keinen Platz. Denken Sie daran: »Auch der Haß gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge.« (Bertolt Brecht)

Äußerungen, die als diskriminierend, diffamierend oder rassistisch aufgefasst werden können, werden nicht toleriert. Hinweise auf kommerzielle Angebote jeder Art sind ausdrücklich nicht gewünscht. Bitte achten Sie auf die Orthografie und bitte nicht »schreien«: Beiträge, die in Großbuchstaben abgefasst wurden, werden von uns gelöscht.

Die Moderation bedeutet für unsere Redaktion einen zusätzlichen Aufwand: Leserbriefe zu älteren Artikeln sind deshalb nur befristet möglich. Außerdem kann es etwas Zeit in Anspruch nehmen, bis die Redaktion Ihren Leserbrief bearbeiten kann, dafür bitten wir um Verständnis. Orthografische Änderungen durch die Moderation machen wir nicht kenntlich, Streichungen mit eckigen Klammern.

Viel Freude am Debattieren!