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»Der Verfassungsschutz betreibt Amtsanmaßung«

Überwachung von junge Welt ist ein schwerer Eingriff in die Pressefreiheit. Ein Gespräch mit Martin Kutscha
Interview: Simon Zeise
Demokratieabbau: Kritiker der Regierung werden als »extremistisch« abgestempelt

Der Verfassungsschutz überwacht mit der jungen Welt eine Tageszeitung. Ich dachte, die Pressefreiheit sei hierzulande ein hohes Gut. Was sagen Sie dazu?

Es ist ein schwerer Grundrechtseingriff. Das gilt auch dann, wenn die Zeitung nicht direkt verboten wird. Schon die Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Möglichkeiten einer Zeitung ist auf jeden Fall ein Eingriff in die Pressefreiheit. Der Verfassungsschutz behauptet unter anderem, dass die junge Welt nicht unparteiisch sei. Es ist aber das gute Recht eines jeden Presseerzeugnisses, eine politische Linie zu verfolgen, in diesem Fall eben auch eine marxistische Position zu vertreten.

Inwiefern ist denn diese marxistische Ideologie, wie die Behörde es nennt, verfassungsfeindlich?

In meinen Augen überhaupt nicht, weil das Grundgesetz durchaus offen ist für unterschiedliche Ausgestaltungen der Wirtschaftsordnung in Deutschland. Es erlaubt einen sozialen Kapitalismus, also in Gestalt eines Sozialstaates. So steht es in Artikel 20, obwohl der Begriff Kapitalismus nicht darin vorkommt. Das Grundgesetz erlaubt aber eben auch die Vergesellschaftung von bestimmten Industrien sowie von Grund und Boden. Das ist in Artikel 15 geregelt, der erstmals zur Anwendung kommen könnte, wenn das Volksbegehren in Berlin zur Enteignung von Deutsche Wohnen und Co. erfolgreich sein wird.

Die Behörde droht, dem Verlag 8. Mai und auch der jungen Welt wirtschaftlich schaden zu wollen. Inwiefern wird dadurch die Verfassung geschützt?

Überhaupt nicht. Der Verfassungsschutz ist unter anderem auch ein Propagandaorgan der jeweiligen Regierung. Missliebige Stimmen in der Öffentlichkeit werden durch die Abstempelung als Extremisten aus dem Spektrum des politisch Zulässigen hinausbefördert. Dadurch wird ihnen die demokratische Qualität abgesprochen. Und das ist natürlich ein Eingriff in die Pressefreiheit, aber auch generell in die Breite des Meinungsspektrums in einer Demokratie. Eigentlich soll sich diese Staatsform dadurch auszeichnen, dass auch abweichende Meinungen zur Regierung geduldet werden.

Laut Verfassungsschutzbericht sind einzelne Autoren, die in junge Welt zu Wort kommen, dem sogenannten linksextremistischen Spektrum zuzuordnen. Ist die Überwachung damit rechtens?

Linksextremismus ist ein Begriff, der weder im Grundgesetz noch im Bundesverfassungsschutzgesetz vorkommt, weil der Begriff des Extremismus viel zu unbestimmt ist. Wenn man den Begriff ernst nimmt, bedeutet er einfach nur eine gewisse Entfernung von der politischen Mitte. Und diese Mitte definiert sich selbst, dazu gehören dann alle Parteien von der SPD bis zu CDU, CSU, FDP und Grünen. Auch die AfD behauptet, dazuzugehören. Es gibt also ein regelrechtes Gedränge in der sogenannten Mitte. Der Trick besteht darin, alle, die damit nicht übereinstimmen, zu diskriminieren, indem man sie als extremistisch hinstellt. Der Verfassungsschutz hat vor allem die gesetzliche Aufgabe, Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung zu erkennen. Wobei man diese nicht mit dem Status quo der wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnisse gleichsetzen darf. Genau das tut der Verfassungsschutz aber in weiten Teilen. Und das ist ihm vorzuwerfen: Er betreibt Amtsanmaßung.

Der jungen Welt wird vorgehalten, die Zeitung sei kein bloßes Informationsmedium, sondern ein politischer Faktor und schaffe Reichweite. Verletzt die Redaktion damit das Grundgesetz?

Es ist ein merkwürdiger Vorwurf. Jedes Publikationsorgan versucht selbstverständlich in gewisser Weise Meinungen zu beeinflussen. Das ist der Sinn von Presseerzeugnissen. Eine Zeitung der CDU oder der SPD versucht natürlich genau dasselbe. Insofern ist das völlig legitim, wenn ein Presseorgan wie in diesem Fall die junge Welt eine bestimmte Position als überzeugender darstellt und versucht, sich Gehör zu verschaffen, und darum auch wirbt.

Ein Vorwurf der Behörde lautet: Die Redaktion verfolge eine inhaltliche Linie und lasse nicht nur einen Markt der Meinungen zu Wort kommen. Wird man hierzulande für eine eigene Haltung bestraft?

Das Gebot der sogenannten politischen Ausgewogenheit gilt nicht für privatrechtlich organisierte Zeitungen, sondern nur für öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten. Die junge Welt darf durchaus eine politische Tendenz haben. Genau diese schützt ja gerade das Grundrecht der Pressefreiheit im Grundgesetz.

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Martin Kutscha ist Professor a. D. für Staats- und Verwaltungsrecht