Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Hoheitliche Verrufer

Fragezeichen überflüssig: Mathias Brodkorb hat Argumente für eine Auflösung des Inlandsgeheimdienstes zusammengetragen
Von Arnold Schölzel
Behörde mit Vergangenheit: Protestaktion gegen den langjährigen VS-Chef Hubert Schrübbers (Köln, 2.2.1972)

Der sogenannte Verfassungsschutz (VS), der deutsche Inlandsgeheimdienst mit 16 Landesämtern und einem Bundesamt, entstand im Kalten Krieg zur Bekämpfung von KPD und DDR. Er war personell weithin eine Fortsetzung des Reichssicherheitshauptamtes, exekutierte den »totalitären Antikommunismus« (Günter Gaus) der BRD, betrachtet Faschisten demzufolge richtig zunächst als »unsere Leute«, was von Stay-behind-Neonazitrupps bis zum NSU zu deren Förderung führte. Das wirkliche Verfolgungsinteresse des VS gilt Antikapitalisten. Ausfluss dessen ist auch seine seit Jahrzehnten aufgestellte Behauptung, bei junge Welt handele es sich um ein »Medium im Linksextremismus«, das »mehr als ein Informationsmedium« sei. Da darf die Begriffsbildung »Extremismus« schlampig sein und die dahinter stehende Vorstellung von einem Verschwörerklub in der Berliner Torstraße 6 Wahn – Nebensache.

Von der Geschichte des deutschen Inlandsgeheimdienstes, seinem Bemühen um Totalüberwachung, wie sie der Historiker Josef Foschepoth am Beispiel der Post- und Telefonüberwachung exemplarisch belegt hat, ist im Buch »Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? Der Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik« des Publizisten Mathias Brodkorb – einst PDS- und dann SPD-Mitglied, 2011 bis 2019 Bildungs-, dann Finanzminister von Mecklenburg-Vorpommern – nur am Rand die Rede. Brodkorb führt die »international einmalige Konstruktion« des VS darauf zurück, dass »die Mütter und Väter des Grundgesetzes« es für erforderlich gehalten hätten, »einen präventiv arbeitenden Inlandsgeheimdienst zu errichten, um die junge Demokratie vor ihren Gegnern effektiv schützen zu können«.

Angeblich wegen der Gestapo-Verbrechen soll das zum Trennungsgebot gegenüber der Polizei geführt haben. Altnazis wurden allerdings in Scharen Beamte im VS und der westdeutschen Polizei. Da grenzt die Reduzierung auf den antifaschistischen Gründungsaspekt, die Brodkorb vornimmt, an Geschichtsklitterung. Jedenfalls nahm der VS von Beginn an »Bestrebungen«, also vermutete oder unterstellte Absichten oder Pläne, nicht rechtswidrige Handlungen in den Blick. Vergleichbares gibt es, wie der Autor mehrfach festhält, zumindest formal in keinem anderen westlichen Staat. Der VS sollte Gesinnungspolizei sein, das Fragezeichen im Buchtitel ist überflüssig.

Brodkorb überschreibt den ersten Teil seines Buches mit »Verschwörungstheoretiker im Auftrag des Staates«. Die folgenden 40 Seiten lesen sich wegen häufiger Wiederholung des damit Gesagten – eine Behörde, die von Amts wegen zu Halluzinationen tendiert – mühsam. Die sechs Fallbeispiele sind flotter beschrieben. Brodkorb zeigt mit ihnen allerdings lediglich, dass der VS stets auftragsgemäß handelte und in den Fällen Bodo Ramelow und Rolf Gössner zwar angeblich durch Gerichte gestoppt worden sein soll, aber nur Irrelevantes preisgab. Er darf alle Akten schwärzen, wenn er will. Er steht über dem Recht. Mit Eifer skandalisiert der Autor danach drei weitere vermeintliche Opfer des VS – Nationalisten und Rassisten. Überzeugend gelingt das nicht. Es geht um die rechte Kaderschmiede »Institut für Staatspolitik«, das sich jüngst selbst auflöste, um den ins Völkische ausgetickten BND-Professor Martin Wagener und die AfD selbst. Schließlich spießt Brodkorb die Wahnidee einer »demokratiefeindlichen und/oder sicherheitsgefährdenden Delegitimierung des Staates« des VS-Chefs Thomas Haldenwang auf und klassifiziert sie richtig als »rechtsstaatliche Sauerei«.

Das ist im Detail lehrreich, im Ganzen widersprüchlich. Einerseits zitiert Brodkorb zustimmend Gössner, der den VS als »ideologischen Regierungsgeheimdienst« im Wesen charakterisiert, skandalisiert aber dann, dass der VS exakt der damit gestellten Aufgabe gerecht wird: Mögliche Opposition bekämpfen. Antidemokratismus ist seine Kernaufgabe.

Das konkrete jeweilige Ziel des VS, lässt Brodkorb den Juristen Jürgen Seifert sagen, ist »hoheitliche Verrufserklärung«. Das Zitat aus dem Jahr 1976 besagt: Dem zum »Verfassungsfeind« Gestempelten soll geschadet und er durch Stigmatisierung aus der öffentlichen Debatte entfernt werden. In den Worten des von Brodkorb zitierten Staatsrechtlers Dietrich Murswiek: »Mit einem Feind diskutiert man nicht, man bekämpft ihn. Dies ist nicht nur die faktische Wirkung der Erwähnung einer Organisation im VS-Bericht; es ist ihre beabsichtigte Funktion.« Siehe jW.

Brodkorb zeigt mit vielen Details und leider vielen Wiederholungen: Der VS soll Grundrechte aushebeln, er ist die Aufhebung des Rechtsstaates. Seine Existenz ist der Skandal, nicht nur seine Rechtsbrüche. Mit Blick auf die verlangt Brodkorb die Auflösung des VS, das tiefere Problem, das Verhältnis von Staat, Staatsapparat und Gesellschaft, umgeht er. Der Band verfügt zwar über einen Anmerkungsapparat, aber weder über ein Namensregister noch eine Bibliographie, was ihn etwas leserunfreundlich macht.

Mathias Brodkorb: Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? Der Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik. Sechs Fallstudien. Zu Klampen, Springe 2024, 248 Seiten, 25 Euro