Darf man alles dürfen?
Von Frank BurkhardKurz vor Weihnachten 1919 fragte sich Theobald Tiger alias Kurt Tucholsky: »Was schenke ich dem kleinen Michel zu diesem kalten Weihnachtsfest?« Und nachdem er den Nachttopf auf Rollen und das Puppenkrematorium verworfen hatte, kam er darauf: »Ein neues gescheites Reichsgericht – das hat er noch nicht. Das hat er noch nicht!«
Das frühere Reichsgericht in Leipzig, das jahrzehntelang als Dimitroff-Museum diente und inzwischen das Bundesverwaltungsgericht beherbergt, war einer der Schauplätze der Jahrestagung der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft, die diesmal unter dem Motto »Dürfen darf man alles« Möglichkeiten und Grenzen der Satire behandelte. In Leipzig hatte 1931 auch der berüchtigte Weltbühne-Prozess stattgefunden, bei dem der Journalist Walter Kreiser und der Herausgeber Carl von Ossietzky wegen angeblichen Verrats von Militärgeheimnissen zu je 18 Monaten Haft verurteilt wurden. Ossietzky erholte sich nie wieder davon. Von diesem Strafverfahren war bei der anekdotengespickten Führung durch das Haus allerdings nicht die Rede.
Die Tagung, die in Zusammenarbeit mit der Universität Leipzig über die Bühne ging, zeigte jugendlichen Elan. Dazu trugen Vorträge von Studentinnen und Studenten bei, die Wirkungslinien von Tucholsky bis in die Gegenwart aufzeigten. So hatte die HipHop-Gruppe Advanced Chemistry Tucholskys medienkritisches Gedicht »An das Publikum« adaptiert, und Rainald Grebe seinen Song »Oben« zumindest thematisch an Tiger-Tucholskys Couplet »Raffke« von 1922 angeknüpft.
Die Musikstudenten Max Dollinger (Bariton) und Wolfgang Geiger (Piano) trugen Tucholskys Chansons mit der Musik von Eisler oder Nelson vor. Die Puristen verziehen gern, dass im Lied von den Feldfrüchten der einstige SPD-Vorsitzende Hermann Müller durch Andrea Nahles ersetzt wurde. Dass mit dem in der gleichen Zeile genannten »Hilferlieschen« der einstige Vorwärts-Herausgeber Rudolf Hilferding gemeint war, wissen nur noch Eingeweihte.
Zur Beantwortung der schwierigen Frage, ob Satire nun wirklich alles dürfe, gab der Leipziger Jura-Professor Kurt Faßbender wichtige Hinweise. Er erinnerte an den Fall Böhmermann und dessen Schmähgedicht auf Erdogan. Man mag zur Qualität des Textes stehen, wie man will, aber er erfüllt den Kunstbegriff, weil er in Reimform verfasst wurde, und sei durch die Meinungsfreiheit gedeckt.
Tucholsky rückte gegen Ende seines Lebens von der Meinung ab, dass Satire alles dürfe: »Satire hat eine Grenze nach oben: Buddha entzieht sich ihr. Satire hat auch eine Grenze nach unten. In Deutschland etwa die herrschenden faschistischen Mächte. Es lohnt nicht – so tief kann man nicht schießen.«
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