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Aus: Ausgabe vom 21.10.2023, Seite 2 / Inland

Scholz fordert »Neubau ganzer Stadtviertel«

Berlin. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat sich für einen Neubau ganzer Stadtviertel im Kampf gegen den Wohnungsmangel in Deutschland ausgesprochen. »Wir brauchen in Deutschland noch 20 neue Stadtteile in den großen Städten auf der grünen Wiese«, sagte Scholz am Freitag in Berlin bei einer Kommunalkonferenz der SPD-Bundestagsfraktion. »Man muss sich von bestimmten Reserviertheiten in dieser Frage lösen«, meinte er, ohne weiter auf die Regierungsmisere hiesiger Wohnraumpolitik einzugehen. Zudem sei Verdichtung in den Städten nötig. Es brauche vor allem geförderten Wohnungsbau und bezahlbare Wohnungen. (dpa/jW)

  • Leserbrief von Christian Helms aus Dresden (23. Oktober 2023 um 15:35 Uhr)
    Mit ihrer Baupolitik konterkariert die Bundesregierung ihre eigenen Klimaziele. Statt den vorhandenen Wohnraum bedarfsgerecht zu nutzen und die vorhandenen Potentiale für das Wohnen zu erschließen, will die Bundesregierung den Neubau auf der grünen Wiese forcieren.
    Schon in der Krisensitzung im Bundeskanzleramt am 25. September wurden die Weichen falsch gestellt. Anstatt auf die Möglichkeiten im Bestand zu orientieren, begünstigen die beschlossenen Maßnahmen vor allem den Bau von Einfamilienhäusern, die besonders viel Bauland, Ressourcen und einen hohen Aufwand für ihre Erschließung benötigen.
    Mit dem Vorschlag, am Rand der großen Städte 20 neue Stadtteile auf der grünen Wiese zu bauen, setzt Bundeskanzler Scholz jetzt noch eins drauf – so auf der Kommunalkonferenz der SPD-Bundestagsfraktion. Mit verheerender Klimabilanz. Beansprucht doch der Neubausektor mit 90 Prozent die meisten Rohstoffe; während sein Anteil an klimaschädlichen Emissionen 40 Prozent beträgt. Hinzu kommt die Versiegelung naturnaher Flächen. Schon jetzt überschreitet sie den von der Bundesregierung vorgegebenen Wert von 30 Hektar pro Tag um mehr als das doppelte! Ganz abgesehen von den sozialen Problemen solcher Vorstädte. Erinnert sei an die Banlieues in Frankreich, die Großwohnsiedlungen der BRD oder die heutige Situation in den Plattenbauvierteln der ehemaligen DDR.
    Bereits Ende 2021 gab es in der Bundesrepublik 19 Millionen Wohn- und 21 Millionen sogenannte Nichtwohngebäude. Von den Wohngebäuden waren 16 Millionen Einfamilien- und drei Millionen Mehrfamilienhäuser. In etwa 43 Millionen Wohneinheiten standen statistisch etwa 55 Quadratmeter Wohnfläche pro Person zur Verfügung. (Zum Vergleich: In England, Spanien, Schweden und Frankreich kommen statistisch etwa 33 Quadratmeter auf jeden Einwohner.)
    Das Problem liegt nicht im Wohnraummangel, sondern in seiner bedarfsgerechten Verteilung. Sowohl regional, innerhalb der Siedlungsgebiete als auch sozial in den Ballungsräumen. Während die Wohnungswirtschaft in strukturschwachen Regionen den Leerstand beklagt, fehlen sie in den Ballungsräumen. Ein leistungsfähiger Nahverkehr könnte diese Reserven erschließen. Zum Vorteil für die Wohnungssuchenden und zur Stärkung der Regionen.
    Rechnerisch haben die 16 Millionen Einfamilienhäuser die größten Wohnflächenreserven. Leben doch in jedem Haus statistisch nur 1,8 Menschen. Zumindest für einen Teil ihrer Bewohner wäre eine bequeme, altersgerechte Wohnung eine Alternative – möglichst im vertrauten Wohnumfeld. Zumal Energie-, Bewirtschaftungs- und Erhaltungskosten bei gleichzeitiger Überalterung der Bewohner zunehmen.
    Durch den massenhaften Verkauf kommunaler Wohnungen verloren fast alle Großstädte bezahlbaren Wohnraum. Mit ihrem wenigstens teilweisen Rückkauf könnten die Kommunen Steuerungsmöglichkeiten für eine sozial- und bedarfsgerechte Verteilung des Wohnraums zurückgewinnen.
    Kurzfristig könnte mit dem Recht auf Wohnungstausch bei gleicher Miete eine bedarfsgerechtere Verteilung der vorhandenen Wohnflächen initiiert werden. Von den 43 Millionen Wohnungen in Deutschland gelten 6 Prozent als groß, d.h. sie haben drei Räume mehr als Bewohner. Zwei Millionen Wohnungen, die potenziell getauscht werden könnten.
    Allein durch die Sanierung und die Aufstockung von Wohngebäuden sowie die Umnutzung nicht mehr benötigter Büro- und Gewerbebauten können zusätzlich 2.8 Millionen Wohnungen geschaffen werden – so die einschlägigen Fachleute.
    Allein im gegenwärtigen Bestand wäre genügend Platz für weitere 32 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner – ermittelte 2022 der Architekturprofessor Wilfried Wang. Verglichen mit dem Neubau auf der grünen Wiese allerdings ein kleinteiliges Geschäft mit weniger Umsatz und eher geringen Renditeaussichten für die Finanz-, Immobilien- und Bauwirtschaft. Eine Bau- und Wohnungspolitik, die nicht die vorhandenen Potentiale nutzt, sondern auf den Neubau fixiert ist, dient zwar kurzfristig der kriselnden Bau- und Immobilienwirtschaft, vergeudet jedoch Ressourcen, schadet der Umwelt und dem Klima.