Paschinjans Rücktritt gefordert
Von Reinhard Lauterbach![6.JPG](/img/450/195434.jpg)
Nach drei Tagen mit Protesten und Straßenblockaden in Armenien hat sich die innenpolitische Lage offenbar vorerst stabilisiert. Die Polizei nahm am Montag und Dienstag knapp 300 Demonstranten vorübergehend fest; bis zum Mittwoch waren sie allerdings offenbar wieder auf freiem Fuß. Auslöser für die Proteste ist die Entscheidung von Ministerpräsident Nikol Paschinjan, vier in den 1990er Jahren von Armenien eroberte Dörfer an Aserbaidschan zurückzugeben.
Paschinjan begründete diesen Schritt mit der Notwendigkeit, nach den schweren militärischen Niederlagen Armeniens das Verhältnis zum stärkeren östlichen Nachbarn zu normalisieren. Am Dienstag sprach der Premierminister explizit von einer »bedeutenden Verbesserung der Gesprächssituation« mit Aserbaidschan infolge der Rückgabe. Aber das armenische Zugeständnis traf in den betroffenen Dörfern auf wenig Gegenliebe. Der US-Sender Radio Liberty meldete, dass Einwohner Gebäude und Felder in Brand gesteckt hätten, damit nicht »Aserbaidschan von den Früchten unserer Arbeit profitiert«.
Anführer der Protestbewegung ist der Erzbischof der armenisch-orthodoxen Diözese Tawusch im Nordosten Armeniens, Bagrat Galstanjan. Er forderte Paschinjan zum Rücktritt innerhalb einer Stunde auf und blockierte, als dieses Ultimatum vom Regierungschef ignoriert wurde, persönlich mit seinem SUV eine wichtige Kreuzung in Jerewan. Die jetzt abgetretenen vier Dörfer gehörten bisher zu seiner Diözese. Ob hinter den Protesten mehr steht als die Frustration von Leuten, die sich durch eine am grünen Tisch getroffene Entscheidung auf der falschen Seite einer Grenze wiederfanden, ist schwer zu entscheiden. Erzbischof Galstanjan ist nach den Informationen, die man online über ihn finden kann, in Großbritannien und Kanada ausgebildet worden, bevor er 2013 nach Armenien zurückgekehrt ist und im kirchlichen Apparat Karriere machte.
Elf Jahre »Inkubationszeit« sind freilich relativ lang, um eine direkte Steuerung aus aktuellen politischen Interessen anzunehmen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg war im März in Armenien und forderte Paschinjan auf, mit Aserbaidschan zu einem Friedensschluss zu kommen – mit unschwer zu erratenden Hintergedanken zwar, aber trotzdem: Der armenische Regierungschef verhält sich im großen und ganzen gemäß dieser Richtlinie. Der Westen hat also wenig Anlass, ihn zu stürzen. Im Gegenteil: Paschinjan ist dabei, sein Land in kleinen Schritten aus der russischen Einflusssphäre herauszusteuern. Armenien hat die »Organisation für kollektive Verteidigung«, einen Anfang der 1990er Jahre unter russischer Leitung gegründeten Verbund früherer Sowjetrepubliken, faktisch verlassen, nimmt zumindest an gemeinsamen Aktivitäten des Bündnisses nicht mehr teil. Erst am Montag hatte die armenische Regierung erklärt, wegen angeblicher Schulden bei Einspeisegebühren die Ausstrahlung des russischen Ersten Kanals in Armenien einzustellen.
Für ein russisches Engagement hinter den Protesten spricht zumindest nach der Stimmungslage der Moskauer Qualitätspresse ebenfalls wenig. Die Zeitung Iswestija befragte diverse Experten in Moskau und Jerewan zu den Chancen der von Galstanjan geleiteten Protestbewegung, Paschinjan zu stürzen. Die generelle Einschätzung war, dass die Bewegung »der armenischen Gesellschaft nichts anzubieten« habe und deshalb perspektivlos sei. Einzig Paschinjan warf der armenischen Kirche – die sich als Nationalkirche versteht – vor, sie sei als »Einflussagentin« bekannt, ohne aber zu sagen, in wessen Auftrag. Er drohte ihr mit dem Entzug steuerlicher Privilegien und der Einziehung kirchlicher Ländereien, wenn sie sich weiter politisch einmische.
Auch wenn kein unmittelbarer ausländischer Einfluss auf die Proteste auszumachen wäre, ist Paschinjan wegen seiner auf Beendigung des Konflikts mit Aserbaidschan abzielenden Politik in der Gesellschaft nicht sehr beliebt. Nach Umfragen genießt er das Vertrauen von knapp 20 Prozent der Bevölkerung, gegen seine Politik und ihre Folgen sprechen sich demnach 40 bis 50 Prozent der Befragten aus. Die innere Lage Armeniens ist nach diesen Verhältnissen instabil, ohne für die Staatsmacht kritisch geworden zu sein.
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