75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Dienstag, 2. Juli 2024, Nr. 151
Die junge Welt wird von 2819 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausgabe vom 04.06.2024, Seite 15 / Natur & Wissenschaft
Mathematik

Mathematiker ohne Adresse

Der ungarische Mathematiker Pál Erdős war zeitlebens ein Reisender, seine Erkenntnisse beeinflussten Graphentheorie und Computeralgorithmen
Von Barbara Eder
15.jpg
Rechnen gegen den »SF«: Pál Erdős in Budapest

So einer lag natürlich mit Gott im Hader, weil dieser jenem die perfekten Beweise für mathematische Sätze vorenthielt. Pál Erdős, 1913 als Sohn einer Mathematiklehrerin in Budapest geboren, zählt zu den produktivsten Mathematikern des 20. Jahrhunderts. Er hinterließ ein umfangreiches Werk, das weit über die Zahlentheorie hinausgeht und tief in einzelne Fachgebiete der späteren Informatik hineinwirken sollte. Erdős war unter anderem ein Pionier der Anwendung wahrscheinlichkeitstheoretischer Ansätze im Bereich der Zahlentheorie. Zur Lösung deterministischer Probleme setzte er auf probabilistische Verfahren, die heute auch im Bereich von Hashing-Algorithmen zur Anwendung kommen. Diese werden unter anderem dazu eingesetzt, um effizientere Datenspeicher- und Abrufmethoden zu entwickeln – die Kapazitäten von Datenbanken können dadurch um ein Vielfaches erhöht werden.

Einen essenziellen Beitrag leistete Erdős auch für die Graphentheorie. Von 1959 bis 1968 entwickelte er gemeinsam mit Alfréd Rényi die Theorie zufälliger Graphen. Beide erbrachten den Beweis, dass Phasenübergänge für das Auftauchen neuer Eigenschaften und Strukturen in Abhängigkeit von der Größe eines Graphen ausgemacht werden können – Erkenntnisse, die Auswirkungen auf die technische Netzwerkforschung haben sollten. Randomisierte Graphenmodelle spielen bei der Analyse von Netzwerken eine zentrale Rolle, sie ermöglichen es, ihre Struktur und Dynamik zu verstehen sowie die Robustheit und Anfälligkeit von außen zu bewerten. Auf Basis dieser Einschätzung können effizientere Algorithmen für das Routing – die Wege der Datenübertragung in Rechnernetzen – entwickelt werden.

Erdős erkundete die mathematischen Grundlagen für viele spätere Anwendungen, erst infolge seiner Erkenntnisse wird verstehbar, warum Rechnernetze nichttriviale, topologische Eigenschaften aufweisen – im Sinne dessen, dass die Verbindungen (Kanten) zwischen ihren Elementen (Knoten) weder regelbasiert noch rein zufällig entstehen. Zudem hat Erdős die Komplexitätstheorie beeinflusst – ein Gebiet der theoretischen Informatik, das sich mit der Klassifizierung und Analyse von algorithmisch lösbaren Problemen beschäftigt. Seine Untersuchungen zur asymptotischen Dichte und Verteilung von Primzahlen haben zu neuen Einsichten über Primzahltest- und Faktorisierungsalgorithmen geführt. Während Erdős mit Bleistift auf einem Blatt Papier die mathematischen Grundlagen dafür errechnete, stellte er selbst zeitlebens kaum Ansprüche. Er arbeitete oft 20 Stunden pro Tag und hielt sich währenddessen mit Kaffee und Amphetaminen wach. Das Glück der Mathematik leitete er aus dem Wenigen ab, dessen es bedurfte, um sie zu betreiben. Erdős selbst bezeichnete sich auch als »machine for turning coffee into theorems« – und meinte damit zugleich alle weiteren Angehörigen der mathematischen Zunft.

Erdős war über die Grenzen seines Fachgebiets für seine außergewöhnlich hohe Kooperationsbereitschaft mit anderen Mathematikern bekannt. Um die Verbindungen zu anderen Kollegen numerisch zu erfassen, erfand er die sogenannte Erdős-Zahl, sie sollte die »Koautorendistanz« zu ihm selbst bemessen. Diese Zahl hat sowohl eine humorvolle als auch eine tiefergreifende Bedeutung innerhalb der wissenschaftlichen Community: Sie bezeichnet den jeweiligen Grad an Vernetzung und Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Forschern und Forscherinnen. Die Erdős-Zahl hat auch Einzug in die Theorie sozialer Netzwerke gefunden und wird als Beispiel für »Kleine-Welt-Phänomene« herangezogen, welche etwa demonstrieren, dass jeder Wissenschaftler nur wenige Schritte von jedem anderen Wissenschaftler entfernt ist.

Neben seinen mathematischen Arbeiten war Erdős vor allem für seine exzentrische Persönlichkeit bekannt. Er führte eine auf das Nötigste reduzierte Existenz, besaß nahezu nichts und war ständig auf Reisen. Die Gewohnheit von Campus zu Campus zu ziehen entwickelte er, als er im Jahr 1938 Stipendiat der Princeton University wurde und vor Ort als Sonderling angesehen wurde. In den 1960er Jahren nahm er eine Stelle an der Hebräischen Universität Jerusalem an, ein Einreiseverbot in die USA blieb – angeblich auch aufgrund einer Freundschaft mit dem chinesischen Zahlentheoretiker Loo-Keng Hua – bis 1963 bestehen.

Mit den Worten »My brain is open« bekundete Pál Erdős seine Offenheit gegenüber neuen mathematischen Ideen und Kollaborationen, bis zuletzt tingelte er von Universität zu Universität. Jahrzehntelang blieb er ohne festen Wohnsitz, lebte aus dem Koffer und verbrachte die Nächte bei Mathematikerkollegen, die an unterschiedlichen Universitäten lehrten. Im September 1996 starb er während einer Konferenz über Graphentheorie in Warschau. Im Umgang mit seinen Mitmenschen war Erdős, der die Liebe zu den Zahlen früh entdeckte, eigentümlich und gewitzt, er erfand mitunter auch ein besonderes Vokabular für sie: Kinder bezeichnete er als Epsilons, Frauen als Bosse, Männer als Sklaven, Verheiratete als Gefangene und Geschiedene als Befreite.

Auch für das höchste aller Wesen hatte Pál Erdős, Nachfahre von Holocaustverfolgten und als ungarischer Jude selbst Exilant, eine idiosynkratische Bezeichnung parat: Er nannte Gott scherzhaft einen »Supreme Fascist« (kurz: SF), der Socken und ungarische Pässe verschwinden lassen konnte und die schönsten mathematischen Beweise stets für sich behielt. Bei Preisausschreibungen, die Erdős oft spontan ausrief, galt es, sich gegen diesen SF zu behaupten. Er lobte Preisgelder auf noch ungelöste mathematische Rätsel aus, mit jenen, die er selbst gewann, unterstützte er seine Studierenden. Mathematik verstand er als gemeinschaftliche Tätigkeit und kooperative Praxis. Im Dokumentarfilm »N Is a Number: A Portrait of Paul Erdős« von 1993 ist er in betagtem Alter rechnend im Budapester Stadtwäldchen zu sehen – umgeben von Mathematikerkollegen und -kolleginnen aus aller Welt, die dem kreativen Prozess der Beweisführung das ihre hinzuzufügen hatten.

Großes Kino für kleines Geld!

75 Augaben für 75 €

Leider lässt die Politik das große Kino vermissen. Anders die junge Welt! Wir liefern werktäglich aktuelle Berichterstattung und dazu tiefgründige Analysen und Hintergrundberichte. Und das zum kleinen Preis: 75 Ausgaben der gedruckten Tageszeitung junge Welt erhalten Sie mit unserem Aktionsabo für nur 75 €!

Nach ablauf endet das Abo automatisch, Sie müssen es also nicht abbestellen!

Ähnliche:

  • Die dunklen Seiten des Mythos: Tata Tavdishvili und Tato Geliash...
    03.05.2024

    Wir gut, du böse

    Vom 6. bis zum 28. April fand in Budapest das elfte MITEM-Theaterfestival statt.
  • Besetzen, diskutieren: Protestierende Studierende auf der Elisab...
    13.10.2021

    Brücken bauen in Budapest

    Was bringt schon Boykott? Protest und Verständigung beim ungarischen MITEM-Theaterfestival

Regio:

Mehr aus: Natur & Wissenschaft