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Aus: Ausgabe vom 06.06.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Israelische Linke

»Repressionswelle von historischem Ausmaß«

Über koloniale Gewaltherrschaft in Palästina und dramatische Irrtümer der israelischen Linken. Ein Gespräch mit Jonathan Pollak
Von Anne Herbst, Tel Aviv
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Ein Palästinenser in den Trümmern seines von israelischen Siedlern zerstörten Hauses im Dorf Al-Mughayyir in der besetzten Westbank (13.5.2024)

Jonathan Pollak ist Aktivist der antizionistischen Bewegung, unter anderem des palästinensischen Netzwerks »Faz3a«. Er hat sechs Haftstrafen verbüßt und stand mehrfach unter Hausarrest. 2019 verübten mutmaßliche Faschisten eine Messerattacke auf ihn.

Die israelische Linke ist geschwächt und orientierungslos. Welcher ist ihr gravierendster Fehler?

Es ist wichtig, das Grundproblem zu verstehen. Die Linke und sogenannte Linke hierzulande ist seit jeher an die israelischen Interessen gebunden. Unter normalen Bedingungen ist das sinnvoll. Aber wir befinden uns in einer kolonialen Situation. Die Basis für eine wirklich linke Bewegung muss sein, sich auf die Seite der Kolonisierten zu stellen und auch den Kampf gegen den Kolonialismus zu führen – und zwar nicht innerhalb der politischen Sphäre der Kolonialisten, sondern vom Standpunkt der Kolonisierten aus.

Wie es in den 1960er Jahren marxistische weiße Linke in Südafrika getan haben?

Ja, das war eine vergleichbare Situation. Natürlich gab es auch damals Liberale, die die Apartheid reformieren wollten oder sich der Illusion hingaben, mit der Sprache der weißen Vorherrschaft die Massen erreichen und beeinflussen zu können. Aber da waren auch weiße Radikale, die der Apartheid ein Ende setzen wollten. Letztere bildeten nicht ihre eigenen kleinen weißen Gruppen. Sie standen auf und traten dem ANC (Afrikanischer Nationalkongress, jW) bei, was illegal und wofür ein hoher Preis zu zahlen war. Aber das war es, was weiße Radikale zu tun hatten. Sie kämpften als weiße Minderheit in einer von Schwarzen geführten Bewegung. Das historische Versagen der israelischen Linken besteht darin, dass sie sich nicht der palästinensischen Befreiungsbewegung angeschlossen hat.

Das war das einzige Versäumnis?

Nein, sie hat auch den Kampf für Demokratie nicht geführt. Israel ist sehr gut darin, sich als solche zu vermarkten. Zwar werden Mängel eingeräumt, aber Israel wird als Demokratie anerkannt und die Besatzung als Nebensache betrachtet. Die gegenwärtige Regierung ist wirklich faschistisch, die gefährlichste rechtsextreme Regierung, die wir bisher hatten – und das soll etwas heißen. Sie hat die demokratische Fassade der israelischen Gesellschaft angekratzt und das Justizsystem beschädigt. Das hatte in der Zeit vor dem 7. Oktober eine liberale zionistische Bewegung ausgelöst, die sich die Verteidigung der Demokratie auf die Fahnen schrieb, aber in Wahrheit nur die Justiz retten wollte. Natürlich sind nicht alle Zionisten gleich – es besteht ein Unterschied zwischen liberalen, konservativen und ultrarechten. Aber in Wirklichkeit ist eine Familienfehde ausgebrochen unter den jüdischen Suprematisten.

Die Palästinenser sind aus dem Kreis der Menschen, die Bürgerrechte genießen, grundsätzlich ausgeschlossen. Es ist kein Zufall, dass die israelische Nationalfahne Symbol der gegenwärtigen Demokratiebewegung ist: Die sogenannte zionistische Linke ist wahrscheinlich die einzige in der Geschichte linker Opposition, die von Generälen der Armee und Geheimpolizei angeführt wird. Israel war immer eine militarisierte Gesellschaft, aber in den vergangenen 20, 30 Jahren ist der Großteil immer weiter nach rechts abgedriftet. Seit Beginn des Krieges hat sich dieser Prozess beschleunigt.

Kann die zionistische Linke nicht wenigstens dazu ein Gegengewicht bilden?

Viele meinen, dass sie Israel wieder in die andere Richtung ziehen und sogar zur Beendigung der 1967er Besatzung bringen kann. Das ist ein falsches Verständnis der israelischen Politik. Denn sie kann nicht im Rahmen der westlichen Demokratien betrachtet werden, in denen es innere Kämpfe gibt. Wir haben es nicht einmal mit Neokolonialismus, sondern mit klassischem Kolonialismus zu tun: Im Westjordanland mit offen rassistischen Gesetzen und einer Militärdiktatur, im 1948 besetzten Gebiet mit eklatanter Diskriminierung und Apartheid, und in Gaza ist er zu einem regelrechten Völkermord übergegangen. Man kann den Kolonialismus nicht durch einen innerisraelischen demokratischen Prozess abmildern oder gar transformieren, sondern er muss abgeschafft werden.

Was hat sich seit dem 7. Oktober bei der Ausübung der Besatzungsgewalt im Westjordanland geändert?

Sie wurde entgrenzt und ist drastisch angestiegen. Früher haben Siedler und Armee Hand in Hand gearbeitet. Jetzt dienen viele Siedler in den IDF – zum Teil sind sie die Armee. Mindestens 18 palästinensische Gemeinden wurden ethnisch gesäubert, am schlimmsten betroffen sind Dörfer in der Zone C, die unter vollständiger israelischer Verwaltung stehen. Und niemand wird für die vielen getöteten und verletzten Menschen zur Rechenschaft gezogen. Die Gewaltexzesse sind keineswegs sporadisch, auch nicht spontan. Kurz nach Kriegsbeginn hat Elhanan Gruner, ein sehr prominenter Siedler, auf seinem X-Kanal erklärt, dass es einen Plan gibt, sich an den Palästinensern zu rächen und sie aus der Westbank zu fegen. Genau diesen Plan setzen sie jetzt mit Unterstützung des israelischen Staates um.

Findet auch eine Entgrenzung der Repression statt, zum Beispiel in dem berüchtigten Gefängnis Sde Teiman in der Negev?

Es ist ein schrecklicher Euphemismus, diesen Ort Gefängnis zu nennen – es ist eine Foltereinrichtung. Sie ist die größte, aber längst nicht die einzige solcher Einrichtungen. Die Armee gibt die Namen der Menschen, die in ihnen festgehalten werden, nicht bekannt, auch nicht die Zahl der Getöteten, man erfährt auch nicht, was dort geschieht. Ein Palästinenser hat ausgesagt, dass ihm mit einer Nagelpistole ins Knie geschossen und der Nagel erst nach 24 Stunden entfernt wurde. So etwas wissen wir nur, weil er später wegen fehlender Beweise freigelassen wurde. Im Shifa-Hospital in Gaza-Stadt wurden Dutzende von gefesselten Leichen gefunden – im Grunde waren das Hinrichtungen.

Gilt das ebenso für die Westbank?

Israel testet permanent auch dort sowie in Ostjerusalem die Grenzen aus, wie weit es gehen kann: Seit Kriegsbeginn wurden mehr als 5.000 Palästinenser verhaftet, etwa die Hälfte sind Administrativhäftlinge, also Menschen, die ohne Indiz für ein Vergehen, ohne Anklage und ohne Prozess festgehalten werden. Die Verwaltungshaft soll nicht länger als sechs Monate dauern, sie kann aber auf Anordnung des Militärs für unbestimmte Zeit verlängert werden. Die Lage in den Gefängnissen ist so katastrophal wie nie zuvor – nicht einmal während der beiden Intifadas gab es Vergleichbares. Das Erschreckendste für mich ist, dass alle Inhaftierten, die wieder freigekommen sind, das Gleiche erlebt haben: Es gibt kein fließendes Wasser und – bis auf eine sehr kurze Zeit am Tag – keinen Strom in den Zellen. Die Gefangenen bekommen nicht genug zu essen, nur eine halbe Schüssel Reis mit Ei und etwas Käse pro Tag. Ein Freund von mir war in Ramla im Gefängnis und erzählte, dass die Wachen den Transport und Zwischenaufenthalte nutzen, um Häftlinge zu verprügeln – manchmal eine ganze Nacht. Auf dem Weg zum Verhör musste er, die Hände auf den Rücken gefesselt, vorgebeugt gehen. Durch ein Türfenster sah er eine Blutlache, und da wusste er genau, was ihn erwartet: Die Wärter haben ihn zu Boden gedrückt und zusammengeschlagen, er schrie, bis jemand kam und sie stoppte. Er blutete aus Mund und Nase und hatte blaue Flecke. Mindestens 60 Häftlinge sind seit Kriegsbeginn gestorben.

Auch im israelischen Kernland?

Hier erleben wir eine Repressionswelle von historischem Ausmaß – wie nie zuvor, seit dem Ende der Militärherrschaft über die Palästinenser 1966. Es wurden Hunderte verhaftet, darunter ein Mann dafür, dass er gepostet hat: »Mein Herz ist mit den Kindern von Gaza.«

Welche Rolle spielt die Ideologie des Kahanismus als zionistischer Erscheinungsform des Faschismus?

Das Bedrohlichste an der israelischen Regierung ist, dass ihre kahanistischen Elemente längst repräsentativ sind für die israelische Politik. Sie stehen nicht mehr am Rand, sie sind ein vulgärer Ausdruck des wirklichen Wesens und der wahren Gefühle des Mainstreams.

Und dieser kennt kein Erbarmen mit den Palästinensern …

Die jüdische Geschichte ist geprägt von der Erfahrung, einem faschistischen Regime geopfert zu werden. Ebenso davon, dass eine Bevölkerung es unterstützt oder wegschaut, weil sie Angst hat zu handeln. Das genau geschieht jetzt im Gazakrieg. Der Internationale Gerichtshof hat den Vorwurf des Genozids als plausibel befunden, und es gibt eine Anordnung, dass Israel Hunger nicht als Waffe einsetzen darf etc. Aber nichts passiert. Das ist ein verheerendes Signal für die Zukunft, weil es beweist, dass ein Völkermord stattfinden kann, ohne dass die internationale Gemeinschaft eingreift. Wir sind in einer sehr deprimierenden und gefährlichen Situation.

Hintergrund: Kampagne »Faz3a«

Im Westjordanland wird dringend Verstärkung für den zivilen Schutz der palästinensischen Bevölkerung gebraucht. Dafür hat eine Koalition aus langjährigen palästinensischen Aktivisten und Studenten vor einigen Monaten die Initiative »Faz3a« (Transliteration des arabischen Worts für Nothilfe) ins Leben gerufen. »Israel verfolgt in den verschiedenen Teilen Palästinas keine unterschiedlichen Ziele, sondern nur unterschiedliche Taktiken«, erklärt ihr Sprecher Mahmoud Zwahre gegenüber jW. »Ethnische Säuberung war schon immer das Endspiel der israelischen Politik, ihre Umsetzung ist nur eine Frage der Gelegenheit.« Zwahre verweist auf einen »exponentiellen Anstieg« der »staatlich geförderten Siedlergewalt« in der Westbank, die stets straffrei bleibe, während im Gazastreifen »Greueltaten« verübt würden. Eine »Intervention« sei zum jetzigen Zeitpunkt notwendiger denn je.

»Palästina ist kein Land der Opfer, sondern ein Land des Widerstands und des Kampfes gegen den Kolonialismus«, betont Zwahre. Daher diene die Faz3a-Kampagne nicht nur dazu, Angriffe abzuwehren, sondern perspektivisch auch geraubten Boden zurückzugewinnen, die Palästina-Solidaritätsbewegung im Ausland zu stärken »und auf internationaler Ebene eine Aktionsdynamik zu schaffen«.

Faz3a will organisiert durch lokale Koordinierungsgruppen mit Unterstützung von Aktivisten aus aller Welt umfangreiche Schutzmaßnahmen durchführen. »Es gibt nichts, was wir mehr brauchen als Menschen vor Ort«, sagt Zwahre. Freiwillige müssen sich zu einem Aufenthalt von mindestens zwei Wochen verpflichten und selbst für ihre Reisekosten aufkommen. Nach ihrer Ankunft erhalten sie eine zweitägige Intensivschulung unter anderem über die Grundsätze und Methoden der gewaltfreien Intervention und Deeskalation sowie Dokumentationsverfahren, ebenso eine Einweisung, wie die Bedürfnisse der palästinensischen Führung und der Bevölkerung zu berücksichtigen sind. Anschließend werden die Aktivisten in bedrohten Gemeinden eingesetzt – je nach Bedarf auch in Notfällen –, um den Bewohnern »ein grundlegendes Gefühl der Sicherheit zu vermitteln«.

Schützende Anwesenheit sei »keine großartige Idee«, sondern etwas, das die Palästinenser als völlig selbstverständlich ansehen würden, erläutert Zwahre. Es sei wichtig zu verstehen, dass sie nicht als »eine Art Wohltätigkeitsarbeit« betrachtet werde, sondern als Möglichkeit für die internationale Gemeinschaft, Palästina beizustehen, nicht es zu retten. Menschen, denen es nicht möglich ist, nach Palästina zu kommen, könnten Faz3a bei der Mobilisierung, Spendenakquise, Medien- und Aufklärungsarbeit unterstützen, so Zwahre. »Das Wichtigste ist, Wut und Frustration in Taten umzusetzen.« (ah)

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