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Aus: Ausgabe vom 27.06.2024, Seite 12 / Thema
Rechtsgut

Der Wert der Würde

Fast alle haben von ihr eine positive Meinung, ohne sich davon Rechenschaft abzulegen, was sie sich mit ihr einhandeln: Die Menschenwürde – und ihre Grenzen
Von Meinhard Creydt
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Hinter ihrer Unantastbarkeit erfolgt der permanente Angriff auf das empirische Individuum (vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main)

Von der Menschenwürde ist meist die Rede, wenn es gilt, einen An- oder einen Einspruch zu formulieren. Allerdings geht die Menschenwürde nicht darin auf, gegen etwas geltend gemacht werden zu können. Mit ihr ist das Selbst- und Weltverständnis moderner Bürger vielmehr auf eine recht spezielle Perspektive festgelegt. Das Grundgesetz räumt der Menschenwürde einen zentralen Platz ein. In den Lobreden auf das Grundgesetz anlässlich seines 75jährigen Bestehens war von ihren Grenzen keine Rede.

Begrenzte Reichweite

Die Menschenwürde hat ihre Berechtigung gegen vorbürgerliche Gesellschaften und autoritäre moderne Staaten. Letztere achten das Individuum nur in dem Maße, wie es seinen Dienst für das vermeintliche »Ganze« leistet und schreiben der Person keinen eigenständigen Wert zu. Zur Beachtung der Menschenwürde gehören das Folterverbot, die Gewährung von individuellen bürgerlichen und öffentlichen Rechten, »das Recht auf sozialen Kontakt.« (»Eine vollständige Isolierung ist auch in der Haft unzulässig, sofern sie länger als nur kurze Zeit dauert«)¹, das Recht darauf, nicht herabgewürdigt zu werden (z. B. durch einen vorgeschriebenen herabwürdigenden Namen).

Allerdings besteht kein Anlass, sich von der Menschenwürde mehr zu versprechen, als sie enthält. Zwar ist mit ihr verboten, Menschen die notwendigen materiellen Lebensgrundlagen zu entziehen. »Die Unterbringung einer siebenköpfigen Familie in einem einzigen Raum ist unzulässig. Umgekehrt ergibt sich aber aus Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes kein Zahlungsanspruch gegen den Staat.«² Artikel 1, Absatz 1 Grundgesetz »verpflichtet den Staat zwar zu dem positiven Tun des ›Schützens‹ (der Menschenwürde; jW), doch ist dabei nicht Schutz vor materieller Not, sondern Schutz gegen Angriffe auf die Menschenwürde durch andere, wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw., gemeint. Art. 1, Abs. 1 GG begründet deshalb kein Grundrecht des einzelnen auf gesetzliche Regelung von Ansprüchen auf angemessene Versorgung durch den Staat«.³

Die Grenzen desjenigen Begriffs von Menschenwürde, der für das Recht in Deutschland maßgeblich ist, zeigen sich auch im Arbeitsrecht. Zwar ist es dem Unternehmer untersagt, in die Persönlichkeitsrechte des Angestellten einzugreifen, wenn etwa der Beschäftigte beispielsweise »ohne seine Einwilligung auf einem Werbefoto für ein potenzstärkendes Mittel erscheinen würde«.⁴ Auch andere Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte (unbefugte Weitergabe von Personaldaten, Diskriminierung aus unsachlichen Gründen) sind verboten. Allerdings »wird die Art und Weise der Arbeit an Maschinen und der Erbringung von Dienstleistungen nicht erfasst. (…) So ist es etwa nicht rechtswidrig, wenn ein Arbeiter jede Stunde sechshundertmal denselben Handgriff machen muss, auch wenn ihn diese Tätigkeit im Laufe der Zeit zu sinnvollen Eigeninitiativen unfähig macht«.⁵

Das Recht findet an den sachlich erscheinenden Voraussetzungen der Gesellschaft des Privateigentums seine Grenze. Zu ihnen gehört die Unterordnung des Arbeitenden unter die Imperative einer Arbeit, die den Mehrwert steigert. Die Arbeitstechnologien und -organisationen, in die die Arbeitenden eingespannt werden, sind entsprechend eingerichtet.

Der Misserfolg in der wirtschaftlichen Konkurrenz und selbst die Insolvenz verletzen die eigene Menschenwürde nicht. »Der Großkapitalist richtet den kleinen Kapitalisten ›bona fide‹ (im Glauben, rechtmäßig zu handeln, jW) zugrunde, ohne dabei die absolute Wertigkeit seiner Persönlichkeit irgendwie anzutasten. Die Persönlichkeit des Proletariers ist der Persönlichkeit des Kapitalisten ›prinzipiell gleichwertig‹, dieser Umstand findet seinen Ausdruck in der Tatsache des ›freien‹ Arbeitsvertrags.«⁶

Die sogenannte Objektformel wiederum sieht vor, dass der Mensch nicht ausschließlich als Objekt behandelt werden soll. In diesem »nicht ausschließlich« liegt die Grenze der Objektformel. »Der Mensch ist nicht selten bloßes Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, insofern er ohne Rücksicht auf seine Interessen sich fügen muss«.⁷ Nicht überall dort, wo Menschen zu Objekten werden, sieht das Bundesverfassungsgericht eine Verletzung der Menschenwürde. Diese sei nur dort gegeben, wo die Behandlung eines Menschen »seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellen oder in der Behandlung im konkreten Fall eine willkürliche Missachtung der Menschenwürde liegen«⁸ würde, insbesondere bei verächtlicher Behandlung.

Konkurrenten auf dem Markt

Die Teilnehmer am Geschäfts- und Erwerbsleben in der kapitalistischen Marktwirtschaft beziehen sich instrumentell auf ihr jeweiliges Gegenüber. In diesem bürgerlichen Materialismus gelten die Dinge und die Tauschpartner »nicht als ihre Bestimmung in sich selbst tragend, sondern bloß als Mittel, welche zur Realisierung eines außerhalb ihrer liegenden Zwecks gebraucht und verbraucht werden«.⁹ Fast alles hat in der kapitalistischen Gesellschaft einen Preis und ist tauschbar. Nur die menschliche Würde nicht.¹⁰ Der Imperativ, demzufolge Menschen nicht einseitig und hierarchisch andere Menschen nur als Mittel und nicht auch als Zweck behandeln sollen, gibt alle anderen Beziehungen wechselseitiger Instrumentalisierung frei. Geachtet werden sollen die Zwecke beider Seiten, die sie in diesem Verhältnis nur für sich selbst erreichen. An der Gleichgültigkeit der Wirtschaftsakteure gegeneinander, die ihre partikularen Privatinteressen verfolgen, nimmt das herrschende Verständnis von Menschenwürde keinen Anstoß.

Bereits die Waren tauschenden Bürger sind beides: Selbstzweck oder Sein für sich und Mittel oder Sein für anderes. Auf beiden Seiten des Tauschverhältnisses gilt: Jede erreicht nur ihren Zweck, »insofern sie Mittel wird, und wird nur Mittel, insofern sie sich als Selbstzweck setzt«.¹¹ Auch die Lohnabhängigen sind sowohl Sein für anderes (als Arbeitskraft) sowie zugleich Sein für sich. Letzteres sind sie als Personen, die die Freiheit haben, die Nutzungsrechte an ihrer Arbeitskraft zu vermieten, den bestehenden Arbeitsvertrag zu beenden und einen neuen einzugehen.

Das Privateigentum gilt in der bürgerlichen Gesellschaft als zentrale Teilmenge eines hohen Gutes, das der »allgemeinen Handlungsfreiheit« (Art. 2, Abs. 1 GG). Das Bundesverfassungsgericht wertet das Eigentumsrecht als »ein elementares Grundrecht, das in einem inneren Zusammenhang mit der Garantie der persönlichen Freiheit steht«. Es diene dazu, dem einzelnen »einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich sicherzustellen und ihm damit eine eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens zu ermöglichen«.¹² »Das Privateigentum erscheint als die reale Grundlage der individuellen Unabhängigkeit und damit der Freiheit«.¹³

Mit dem Grundgesetz wird »um der Würde des Menschen willen jede Steuer ausgeschlossen, die darauf ausgeht, die mit der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabte Persönlichkeit wirtschaftlich zu einem Untertan im Rahmen einer allumfassenden, im Eigentum des Staates stehenden Wirtschaft zu machen«. Steuern dürfen nicht auf die Erdrosselung selbständiger wirtschaftlicher Existenz hinauslaufen. »Nicht der Untertan, um dessen Wohl sich die Obrigkeit bemüht, sondern der kraft seiner Würde freie Menschen (…) entspricht dem Grundgesetz. Die Besteuerung hat diesem Menschenbild zu dienen«.¹⁴

Aufgrund der in der freiheitlich demokratischen Grundordnung gewünschten Pluralität der Antworten auf die Frage, was Menschsein positiv bedeuten soll, wird die Menschenwürde »ex negativo« definiert, ausgehend von den Verletzungstatbeständen. Als »anmaßend« gilt, »das Menschenwürdeprinzip positiv verbindlich zu interpretieren«¹⁵

Die gängige Rechtsprechung wendet sich gegen »Tendenzen zur Trivialisierung, zur Aufblähung und zur Ubiquität des Rekurses auf Art. 1 des GG« und gegen dessen »Überhöhung« zu »einem Problemlöser für alle komplexen und epochalen Entwicklungsprozesse«.¹⁶ Wer einen Begriff allzu expansiv fasst, ordnet ihm zu viel zu und entleert ihn damit. Wer den ersten Grundgesetzartikel inflationär in Anspruch nimmt, entwertet ihn.

Die Vorgehensweise, »Begriffe umzubesetzen«, erfreut sich hoher Beliebtheit. Wer so vorgeht, ersetzt den Inhalt z. B. eines Artikels des Grundgesetzes durch seine eigenen Vorstellungen. Einerseits interpretieren diejenigen, die so verfahren, ein Moment der Verfassung willkürlich gegen deren eigene Logik um. Andererseits wollen sie ihrem Publikum den Eindruck vermitteln, ihre eigenwillige Position sei durch das Grundgesetz legitimiert und autorisiert. Sie bestehen auf der Differenz ihrer Rechtsansichten zur allgemein herrschenden Auffassung der Verfassung und betonen zugleich ihre Übereinstimmung mit dem »eigentlichen« Inhalt des Grundgesetzes. Sie lesen aus ihm heraus, was sie selbst in es hineingelegt haben. Darüber hinausgehend tun sie so, als seien sie es, die das Grundgesetz am vortrefflichsten beherzigen. Überhaupt, so meinen sie, passe es am besten zu ihren Anliegen.

Desinteresse an der Wirklichkeit

Schon Kant bezieht die Menschenwürde keineswegs auf das Individuum mit seinen Sinnen und Fähigkeiten, seinen Bedürfnissen und Interessen, seinen für es wesentlichen sozialen Beziehungen, sondern auf seinen Status als Rechts- und Vernunftsubjekt. Im Bemühen, »den Menschen« gegen soziale Verhältnisse stark zu machen, verkehrt sich die Absicht in eine recht spezielle Wirkung.

Dem Individuum wird mit der Menschenwürde eine Substanz zugesprochen. Es hat dann als Individuum, ganz unabhängig davon, wie die Gesellschaft aussieht, sein eigenes Reich. Dieses besteht aus der Seele, dem Gewissen und dem Individuum als Subjekt, das als »souveräner Inhaber seiner Rechte« gilt. Dieser Humanismus ist so »die Gesamtheit der Diskurse, in denen man dem abendländischen Menschen eingeredet hat: ›Auch wenn du die Macht nicht ausübst, kannst du sehr wohl souverän sein‹«.¹⁷

In der Menschenwürde kommt der Mensch als autonomes Vernunftsubjekt oder als intelligibles Wesen vor, »dadurch es zwar die Ursache jener Handlungen als Erscheinungen ist«, das »aber selbst unter keinen Bedingungen der Sinnlichkeit steht und selbst nicht Erscheinung ist«.¹⁸ Nur das Unbedingte ermöglicht Würde. Würde hat einen »absoluten Wert«.¹⁹ Menschenwürde ist ein Noumenon. Kant versteht darunter im Unterschied zum Phänomenon oder der Erscheinung etwas, das ausschließlich gedacht, aber nicht angeschaut werden kann.²⁰

Die Menschenwürde betrifft nicht das empirische Individuum, sondern das ideale oder eigentliche Selbst oder den intelligiblen Charakter. Das empirische Individuum gehört der Sinnenwelt an, das eigentliche Selbst der intelligiblen Welt oder dem ideellen »Reich der Zwecke«. Das empirische Individuum ist Abhängigkeiten unterworfen. Das ideale oder eigentliche Selbst ist autonom, und das heißt, es folgt der Idee von sich, der eigenen Gesetzgebung. Die »Würde« als »absoluter Wert« ist von allem Sinnlichen und Empirischen frei, ihm entgegengesetzt und über es erhaben.²¹

Zum Kriterium der Menschenwürde wird bei Kant, dass das Individuum »sich selbst des Vorzugs eines moralischen Wesens, nämlich nach Prinzipien zu handeln, d. i. der innern Freiheit, nicht beraube und dadurch zum Spiel bloßer Neigungen, also zur Sache mache«.²² Diese »Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur«.²³ Die Autonomie und die Menschenwürde entpuppen sich als gleichbedeutend mit der Interesselosigkeit an der empirischen Wirklichkeit und fordern ein höheres Selbst, das über sie erhaben ist.

Insofern stehen Menschenwürdekonzepte in der modernen bürgerlichen Gesellschaft in Kontinuität zum christlichen Verständnis. Passend zur Auffassung »Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat« (1. Joh. 5,4), bildet der Mensch in der christlichen Religion »ein über die Welt überständiges Wesen«. Deshalb »hat die äußere Welt allein niemals genügend Bedeutung für ihn. Sein Herz und sein Selbst sind immer schon über die Welt hinaus. Die Welt, an der wir arbeiten, genügt unserem Innersten nicht« und kann ihm nie genügen.²⁴ Eine profanisierende Teilübersetzung lautet: »Die Ruhe finde ich sowieso nur in mir selbst. Die kann man genauso haben, wenn man im Gefängnis sitzt, vielleicht sogar eher, als wenn man frei herumsaust und sich selbst in Zwänge setzt« (Franz Beckenbauer im Jahr 1997).

Lebenslange Haftstrafe

Wie wenig der empirische Mensch mit seinen Sinnen und Fähigkeiten in der Menschenwürde gemeint ist und wie stark sie sich auf ein Wesen ohne Körper und Psyche bezieht, zeigt das Urteil des Gerichts von 1977 über die Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Haftstrafe. Der Begründung des Bundesverfassungsgerichts zufolge führt sie nicht »zwangsläufig zu irreparablen Schäden psychischer oder physischer Art, welche die Würde des Menschen (Art. 1, Abs. 1 GG) verletzen (…), denn der Kern der Menschenwürde wird getroffen, wenn der Verurteilte ungeachtet der Entwicklung seiner Persönlichkeit jegliche Hoffnung, seine Freiheit wiederzuerlangen, aufgeben muss. (…) Diese Aussicht (macht) den Vollzug der lebenslangen Strafe nach dem Verständnis der Würde der Person überhaupt erst erträglich«.²⁵

Die per Menschenwürde dem Individuum zugerechnete Selbstverfügung lässt sich dann gegen Beschwerden über die empirischen Schäden, die die zur lebenslangen Haft Verurteilten erleiden, ausspielen. Es liege im Bereich ihrer »Leistungen«, also ihrer Selbstverfügung und Selbstverantwortung, mit den Problemen fertig zu werden bzw. mit ihnen umzugehen. Wo dies nicht gelinge, sei nicht die Haftsituation verantwortlich, sondern letztlich die Stärke oder Schwäche des individuellen Willens oder der suboptimale Gebrauch, den das Individuum von seiner Vernunft macht.

Der freie Wille bildet eine Nachfolgefigur der Seele. Das bürgerliche Selbst- und Weltverständnis »versteht das Bewusstsein im Grunde als ein Lichtlein, das in jedem Menschen gleich brennt, im Kranken wie im Gesunden, im Geplagten wie in demjenigen, dessen Bedürfnisse harmonisch befriedigt werden. Aber wer sonst kann mit dieser Gerechtigkeit der Vorsehung in jedem Menschen ein solches Lichtlein entzündet haben, wenn nicht ein unbestimmter Lebensspender, irgendein Gott?«. Schon die christliche Religion, nicht erst die bürgerliche Ideologie, »unterstellt den Menschen einen ›freien Willen‹, von dessen Gebrauch Heil und Verdammung im Jenseits abhängen«.²⁶

Deine Menschenwürde ist alles

Die Menschenwürde bezieht sich auf eine Sub­stanz, die zugleich in der Welt, nicht von dieser Welt und die Welt prinzipiell übersteigend ist. Diese Substanz soll normative Orientierung geben. Ein solches Vorgehen weist eigene Zwänge auf. Max Stirner hat diese Herangehensweise treffend kritisiert. »Solange Etwas von Dir ausgesagt wird, wirst Du nur als dieses Etwas (Mensch, Geist, Christ usf.) anerkannt«.²⁷ Daraus ergibst sich folgende Frage: »Können Wir Uns das gefallen lassen, dass ›Unser Wesen‹ zu Uns in einen Gegensatz gebracht, dass Wir in ein wesentliches und ein unwesentliches Ich zerspalten werden? Rücken Wir damit nicht wieder in das traurige Elend zurück, außer Uns selbst Uns verbannt zu sehen?«²⁸

Auch Marx kritisiert »den Universalismus der Menschenrechte selbst. Und zwar nicht nur, weil dieser sich als eine hegemoniale Verallgemeinerung einer eigentlich partikularen Lebensweise erweist, sondern weil in ihm die Menschen ›lediglich‹ als Menschen anerkannt werden. (…) Die Menschen werden ›nur‹ in und aufgrund ihres Menschseins an sich, nicht in ihrer konkreten Individualität anerkannt«.²⁹

Soll eine Substanz oder ein normatives Wesen das Eigentliche an der Existenz empirischer Individuen bilden, bleibt die Scheidung zwischen dem Wesentlichen und dem Unwesentlichen nicht aus. Sie zieht notwendigerweise problematische Konsequenzen nach sich. Vieles kommt dem Individuum als Attribut zu, gilt aber gleichzeitig gegenüber seiner Substanz als nebenher, beiläufig oder als bloßes Akzidens. Diese Scheidung kann sich radikalisieren. Dann gilt das Unwesentliche nicht bloß als nichtwesentlich, sondern als antiwesentlich. Es verdecke, verstelle oder entstelle das Wesentliche.

Kant konfrontiert den »tierischen Hang« des Menschen, »sich den Anreizen der Gemächlichkeit und des Wohllebens, die er Glückseligkeit nennt, passiv zu überlassen«, mit der »Bestimmung der Vernunft«, »tätig« sowie »im Kampf mit den Hindernissen, die ihm von der Rohigkeit seiner Natur anhängen, sich der Menschheit würdig zu machen«.³⁰ Viele verstehen die Menschenwürde allein als Schutznorm. Sie übersehen, wie die Menschenwürde als anspruchsvolle Norm Verwendung findet, an der die Individuen gemessen und auf die sie verpflichtet werden. »Autonomie bedeutet, mehr als ein bloßes Bedürfnis- und Gesellschaftswesen zu sein und in dem Mehr – hier liegt Kants Provokation – zu seinem eigentlichen Selbst zu finden, dem moralischen Wesen, der reinen praktischen Vernunft«.³¹

Wer zwischen Wesen (Menschenwürde) und empirischer Realität (Individuum) unterscheidet, wird folgerichtig vieles als für die Menschenwürde unwesentlich erachten. In dieser Logik lassen sich massive Schädigungen der empirisch vorfindlichen Menschen legitimieren. Beispielsweise gilt die lebenslange Haftstrafe deshalb als beanstandungsfrei, weil sie den menschlichen Kern nicht tangiere. Das dem Individuum als dessen Wesen Zugeschriebene eignet sich vorzüglich dafür, es gegen das bloß empirische Individuum auszuspielen. Dabei käme es darauf an, von der positiven Verwendung von »Menschenwürde« als verschwommenem Wohlfühlwort zum Bewusstsein von deren problematischen Implikationen zu gelangen.

Anmerkungen

1 Ulrich Battis, Christoph Gusy: Einführung in das Staatsrecht, Heidelberg 1991, S. 297 f.

2 Ebd.

3 Bruno Schmidt-Bleibtreu, Franz Klein: Die Grundrechte, Neuwied 1970, S. 124

4 Wolfgang Däubler: Befreiung der Arbeit – Auf den Krücken des Arbeitsrechts? In: Kursbuch 56, Berlin 1979, S. 113

5 Ebd., S. 112

6 Eugen B. Paschukanis: Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, Wien/Berlin 1929, S. 139

7 Aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 1970 (BVerfGE 30, 1)

8 Rosemarie Will: Bedeutung der Menschenwürde in der Rechtsprechung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 61. Jg., H. 35/36, 2011, S. 11

9 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik, in: ders.: Theorie Werkausgabe, Bd. 8, hg. v. Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel. Frankfurt am Main 1971, S. 362

10 Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: ders.: Werkausgabe in zwölf Bänden, Bd. VII, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1968, S. 68

11 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin/DDR 1974, S. 155

12 BverfGE 24, 367

13 Thilo Ramm: Einführung in das Privatrecht, Allgemeiner Teil des BGB, Bd. 1., München 1974, S. 50

14 Schmid-Bleibtreu, Klein, a. a. O., S. 123 f.

15 Theodor Maunz, Günter Dürig: Grundgesetz. Loseblatt-Kommentar. 61. Aufl., München 2011, Art. 10, Rn. 40

16 Rahel Gugel: Das Spannungsverhältnis zwischen Prostitutionsgesetz und Art. 3 Grundgesetz – eine rechtspolitische Untersuchung, Bremen 2010, S. 115

17 Michel Foucault: Von der Subversion des Wissens, München 1974, S. 114

18 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, 2, in: ders.: Werkausgabe, a. a. O., Bd. IV, S. 493

19 Ders.: Kritik der praktischen Vernunft, in: ders.: a. a. O., Bd. VII, S. 59

20 Ders.: Kritik der reinen Vernunft, 1, in: ders.: a. a. O., Bd. III, S. 290

21 Ders.: Die Metaphysik der Sitten, in: ders.: a. a. O., Bd. VIII, S. 569

22 Ebd., S. 552

23 Kant, a. a. O., Bd. VII, S. 69

24 Peter Koslowski: Die postmoderne Kultur, München 1987, S. 53

25 Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1977 (BVerfGE 45, 187, Rn. 191)

26 Ohne Verfasser: Das demokratische Prinzip. In: Rassegna Communista (Theoretische Zeitschrift der KP Italiens), Februar 1922. Wiederveröffentlicht in: Kommunistisches Programm – Bulletin der Internationalen Kommunistischen Partei, Berlin 1975, H. 17

27 Max Stirner: Parerga, Kritiken, Repliken. Hrsg. von Bernd A. Laska, Nürnberg 1986, S. 152 f.

28 Ders.: Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1979, S. 34

29 Andrea Maihofer: Das Recht bei Marx, Baden-Baden 1992, S. 96

30 Immanuel Kant: Schriften zu Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, 1, in: ders.: Bd. XII, S. 678

31 Ottfried Höffe zit. n.: Ralf Ludwig: Kant für Anfänger. Der kategorische Imperativ, München 1995, S. 105

Meinhard Creydt schrieb an dieser Stelle zuletzt am 12. März 2024 über die Freiheiten des Bürgers im Kapitalismus.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (27. Juni 2024 um 13:55 Uhr)
    Zu Recht verweist der Autor am Anfang darauf, dass Menschenwürde (wie auch die Menschenrechte) von der bürgerlichen Gesellschaft zunehmend in Kampfbegriffe gegen unbequeme Gesellschaftsentwürfe verwandelt worden sind. Besonders intensiv spielte sich das nach der Helsinki-Konferenz Mitte der 70er Jahre ab, als es dem sozialistischen Lager eins auszuwischen galt. Leider verlässt der Autor die spannende Frage fast vollkommen, mit welchem Zweck und wie das geschehen ist, und verliert sich zunehmend in ziemlich allgemeinen Betrachtungen. Den Höhepunkt an »guter Verständlichkeit« bildet dann der abschließende Absatz. Vielleicht kann bei Gelegenheit einprägsam nachgereicht werden, welch epochale Erkenntnis dort vermittelt werden sollte.

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