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Aus: Ausgabe vom 04.07.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Tränen trinken

Das Schmutzige ausschwitzen: »Kinds of Kindness« von Giorgos Lanthimos im Kino
Von Maximilian Schäffer
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Kuschelig? Geht so (Filmszene)

Giorgos Lanthimos, Liebling der Liebhaber des betont anspruchsvollen Kinos, gönnt sich 164 Minuten Trickserei. Fünfmal war er für den Oscar nominiert, mit »Poor Things« holte er einen Golden Globe und einen Goldenen Löwen, mit »The Favorite« den Europäischen Filmpreis, mit »The Killing of a Sacred Deer« den Preis für das Beste Drehbuch in Cannes.

Jetzt ist, international und neudeutsch gesprochen, Me-Time auf dem Regiestuhl. Die Seele baumeln lassen. Den Herrgott einen guten Mann sein lassen. Einfach auf alles scheißen.

»Kinds of Kindness« heißt Lanthimos neuer Film, der eigentlich drei mittel­lange Filme in einem behaust. Dabei sind nur die Motive einander ähnlich, es geht grob um Kontrolle und Kon­trollverlust, um Traum und Wirklichkeit, um Besitz und Enteignung. Außerdem bleibt in allen drei Episoden das Kernensemble gleich. Emma Stone, Jesse Plemons, Willem Dafoe und Margaret Qualley wandeln und verwandeln sich.

Zuerst geht es um einen Vollzeitprostituierten, der dem willkürlichen Skript seines Zuhälterfreiers ausgeliefert ist. Der Alte schickt dauernd Sportutensilien, etwa einen zerbrochenen Tennisschläger von McEnroe. Alle Realität ist inszeniert, ein geheimer Plan regiert über Glück und Unglück des Sklaven. Selbst einen Ausbruchversuch lässt diese Truman-Show nicht zu. Danach trauert ein Polizeibeamter um seine schiffbrüchig gewordene Frau, mit der er einst private Sexfilme drehte. Ist sie auf einer einsamen Insel, tot oder zurückgekehrt? Der Wahnsinn greift um sich und gibt Mordwerkzeuge in die Hand. Zuletzt sucht eine Reinheitssekte einen heilenden Heiligen. Im Krematorium versuchen mutmaßliche Auserwählte, stichprobenartig Leichen wiederzubeleben. In einer Sauna gibt es Purifikationsrituale. Das Schmutzige soll ausgeschwitzt werden. Per Leckprobe entscheidet die Guru-Tante über den Verderblichkeitsanteil im Menschensaft. Tränen werden gesoffen. Jemand fliegt kopfvoraus durch die Windschutzscheibe eines lilanen Sportwagens. Hirn fließt. Nach jeder Episode folgt ein karnevalesker Tusch – das mustergültige Markierungswerkzeug jovialer Kleinkunst.

Ab einem bestimmten Punkt, mindestens gegen Ende der zweiten Geschichte, gähnt der Zuschauer. Ein Kuriositätenkabinett macht noch lange keinen Film und permanenter Pseudopathos noch keine Moral. David Lynch verpackt solche Ansätze für gewöhnlich in ätherische Meditationen, fliegt yogisch über alle Dramaturgie. Lanthimos ständiger Impetus hingegen, die griechische Tragödie ins US-amerikanische Absurdum zu verschiffen, verliert sich im Chor. Modernistische Kommentare zur Kon­trollgesellschaft gab’s schon bei der BBC-Fernsehserie »Black Mirror« (ab 2011), deren dystopische Kleinode spätestens nach der Übernahme durch Netflix angestaubt sind. Ständiges Blutzspritzen, Tanzen und Kreischen auf der Leinwand, Hände abhacken und dazu Popmusik kann Tarantino besser. Geht’s um esoterische Landschaften – innerliche wie äußerliche –, bleibt Jodorowsky ungeschlagen.

Das Schöne am Onanieren ist ja, dass man sich nicht zu rechtfertigen hat, auch wenn man den Samen an die Erde vergeudet. Zumindest nicht vor dem Partner, nur vor sich selbst. Man braucht sich nicht zu messen, kann in Ruhe einmal nachmessen. Woher die 15 Millionen US-Dollar an Budget für diesen Film kamen, wissen die Produktionsfirmen. Selig ist der Narrenfreie.

»Kinds of Kindness«, Regie: Giorgos Lanthimos, Irland/GB/USA 2024, Kino­start: heute

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