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Aus: Ausgabe vom 11.07.2024, Seite 2 / Inland
Mobilitätsarmut in Deutschland

»Man zwingt Menschen quasi ins Auto«

Gleichwertigkeitsbericht: Verband kritisiert Fokussierung auf Pkw in der Verkehrspolitik der BRD. Ein Gespräch mit Ragnhild Sørensen
Interview: Gitta Düperthal
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Trotz dichten Verkehrs in den Innenstädten sollen jedes Jahr noch mehr Pkw und Lkw verkauft werden. (Berlin, 8.5.2024)

Der Verein Changing Cities nahm den sogenannten Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung zum Anlass, um »das vorherrschende Autonarrativ« im Verkehrssektor anzuprangern. Wie kommen Sie im Alltag von A nach B?

Ich bewege mich zu Fuß, mit dem Rad oder dem Öffentlichen Personennahverkehr, ÖPNV. Für den Fall, dass ich etwas transportieren muss, miete ich ein Auto.

In größeren Städten mag es noch einen halbwegs funktionierenden ÖPNV geben. Wie stellt sich das im ländlichen Raum dar?

Genau das ist das Problem. In ländlichen Gebieten, am Stadtrand und im Umland von Städten fährt der ÖPNV mit viel zu geringer Taktung. Es heißt immer: Wir sind aufs Auto angewiesen. Die dort ansässige Bevölkerung wird, um mobil zu sein, genötigt, sich ein Auto zu leisten. Selbst wenn dies viele gar nicht wollen, weil es zu teuer ist. Sie müssen mitunter sogar auf andere Dinge verzichten, sind aber gezwungen, umweltverschmutzende Verkehrsmittel zu nutzen, weil es keine Alternative gibt. Nicht alle, die Auto fahren, sind wirklich glücklich damit.

Und von wie vielen Betroffenen ohne eigenen Pkw gehen Sie aus, die verkehrspolitisch »konsequent übergangen« werden?

In der BRD haben knapp acht Millionen Menschen eine anerkannte Schwerbehinderung, weitere fünf Millionen sind pflegebedürftig, zehn Millionen Kinder unter zwölf Jahren. Knapp 13 Millionen haben keinen Führerschein. Ihnen wird gesellschaftliche Teilhabe erschwert. Bahnhöfe sind oft nicht barrierefrei. Bei der Verkehrsplanung werden sie nicht mitgedacht. Im Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung ist die Frage, wie weit Schulen vom Wohnort entfernt sind, in Autofahrminuten gemessen: In Großstädten sind es im Schnitt 3,1 Minuten Fahrtzeit, in dünn besiedelten Regionen 7,2 Minuten. Schülerinnen und Schüler fahren aber in der Regel kein Auto.

Menschen in Armut sind besonders auf bezahlbare Mobilität angewiesen. Was muss über die Subventionierung von Fahrscheinen hinaus für diese Bevölkerungsgruppe getan werden?

Gerade Menschen, die wenig Geld haben, könnte man entgegenkommen, indem man gute Rad- und Fußwege baut. Wer sich die Miete in der Innenstadt nicht mehr leisten kann und am Stadtrand wohnt, ist wegen kaum gefördertem ÖPNV schlecht dran. Geringfügig Beschäftigte, Menschen mit Teilzeitstelle oder im Niedriglohnbereich haben meist nichts vom geförderten Dienstwagenprivileg. Verkehrspolitik muss auch Sozialpolitik sein. Seit Jahrzehnten liegt der Fokus dabei auf den Gutverdienenden. Das muss sich ändern.

Sie sprechen von Mobilitätsarmut. Was ist damit gemeint?

Das Problem ist vielschichtig. Es geht um finanzielle Armut, es wird zudem zu viel Zeit abverlangt. Wegen unzureichender Infrastruktur bei Verkehrswegen zwingt man Menschen quasi ins Auto. Tempo 30 würde größere Sicherheit für Menschen bedeuten, die sich anders bewegen. Der Bundesverkehrswegeplan von 2016, gültig bis 2030, legt fest, was an Autobahnen-, Schienen- und Wasserwegebau angedacht ist. Die Pariser Klimaziele von 2015 sind nicht in den Plan eingeflossen. Die Verkehrsanalyse geht davon aus: Es werde mehr Autoverkehr geben, weshalb man mehr Autobahnen bauen müsse.

So kommen wir nicht aus der Abhängigkeit vom Auto heraus. Reaktivierung von Bahnstrecken aber muss stets detailliert begründet werden: Etwa soundsoviele Passagiere werden erwartet. Polen macht es vor: Werden stillgelegte Strecken wieder reaktiviert, feiert es die Bevölkerung und macht mit.

Was ist das langfristige Ziel?

Lebenswerte Städte müssen mit politischer Partizipation für Klimaschutz und Verkehrssicherheit geschaffen werden. Denken wir über den ÖPNV nach, muss das Verlegen des Güterverkehrs auf die Schiene mitgeplant sein. Immer noch entscheidet das Verhältnis von Nutzen zu Kosten über den Bau von Autobahnen und Bundesstraßen. Doch zentrale Daten sind überholt. Greenpeace beispielsweise präsentiert eine neue Kosten-Nutzen-Analyse mit Stand Mai 2024. Rechnet man die Kosten der Klimakrise mit ein, stimmt die ganze Berechnung nicht mehr. Eingerechnet aktualisierter Baukostenschätzungen des Bundesverkehrsministeriums und jüngster CO2-Berechnungen des Umweltbundesamtes sind die erwarteten Kosten von 241 der 1.045 bewerteten Fernstraßenprojekte größer als ihr Nutzen. Deshalb muss ein Paradigmenwechsel eingeleitet werden.

Ragnhild Sørensen ist Sprecherin des verkehrspolitischen Vereins Changing Cities

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (10. Juli 2024 um 22:26 Uhr)
    Früher (1980), als alles noch besser war, gab es eine Debatte zum Wegekostendeckungsgrad. Im Fischer Öko-Almanach (Daten, Fakten, Trends der Umweltdiskussion) von 1980 kann man (und frau auch) auf Seite 146 lesen: »Trotz oder gerade wegen der Brisanz derartiger Berechnungen gibt es seit der genannten Wegekostenberechnung (1966) lediglich eine (offizielle) Neuberechnung der Wegekosten im Verkehr für das Jahr 1975. Nach diesen Berechnungen hat sich der Wegekostendeckungsgrad von 1966 bis 1975 um ca. 30 Prozent verschlechtert (ausgenommen öffentlicher Personennahverkehr +8 Prozent). … Die Folgekosten des Straßenverkehrs werden z. Z. unvollständig auf 33 bis 40 Mrd. DM/Jahr beziffert. Bereits aus diesen Zahlen lässt sich ablesen, dass die Subventionierung des Straßenverkehrs vermutlich um ein Vielfaches so hoch ist wie die der Bahn.« Der Zwang ins Auto ist also schon ein paar Tage alt.

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