Die Tragödie der Kinder
Von Helga Baumgarten, JerusalemSeit Oktober warten fünf Babys aus Gaza auf ihre Mütter: die Drillinge Nadschwa, Nidschma und Nur sind inzwischen fast ein Jahr alt. Die Mutter hätte sie Anfang Oktober nach Gaza holen sollen, nachdem die Geburt gut verlaufen war im Makased-Krankenhaus in Jerusalem. Sie wurde auf die Zeit nach dem Laubhüttenfest vertröstet. Aber davor kam der 7. Oktober. Die Mutter sitzt seitdem in Gaza fest, die Babys werden in Jerusalem versorgt.
Aber warum ist die Mutter in Gaza – sind ihre neugeborenen Drillinge aber in Jerusalem? Nur der menschenverachtende Umgang der israelischen Besatzung mit Menschen aus Gaza, und gleichermaßen mit Menschen aus der Westbank, hat dazu geführt. Als die hochschwangere Frau nach Jerusalem kam, um ihre ersten Kinder zur Welt zu bringen, hatte sie eine Genehmigung als Patientin. Sofort nach der Geburt ihrer Kinder transformierte sie sich für die israelische Besatzung in eine »Begleiterin«. Um als Begleiterin in Jerusalem bleiben zu dürfen, braucht sie eine neue Genehmigung. Diese kann sie aber nur im Gazastreifen beantragen. Also musste sie ihre Babys in Jerusalem lassen, um möglichst schnell eine neue Genehmigung zu bekommen.
Das ist kein Einzelfall: Saida wurde als »Problemkind« im Makased-Krankenhaus geboren. Nach der Geburt waren Operationen notwendig, die zum Glück erfolgreich waren. Auch Saidas Mutter musste zurück nach Gaza, um eine neue Genehmigung als Begleiterin ihres Babys zu bekommen. Anas schließlich, das fünfte Baby, ist immer noch schwer krank, auch nach mehreren äußerst komplizierten Operationen. Er ist einer von Vierlingen. Seine Mutter kehrte mit drei ihrer Babys nach Gaza zurück. Sie kann Anas erst nach Gaza holen, wenn dieser entsetzliche Krieg zu Ende ist.
Wie geht das Krankenhaus in Jerusalem mit dieser Situation um? Die Babys haben ein eigenes Zimmer erhalten, das »Gazazimmer«, in dem sie inzwischen leben. Babygitterbetten, Lauflernhilfen, Babyspielzeug, eine Spielmatte am Boden: All das durfte ich bewundern bei einem jüngsten Besuch im Krankenhaus. Die Babys werden medizinisch bestens versorgt. Jeden Tag ruft die Sozialarbeiterin bei den Müttern der Babys an. Ich durfte miterleben, wie freudig, ja begeistert Nadschwa, Nidschma und Nur auf die Stimme und das Bild ihrer Mama auf dem Mobiltelefon reagierten. Ein Strahlen breitete sich aus auf den kleinen Gesichtern, sie griffen nach dem Bild der Mutter – aber in Minuten war alles vorbei. Oft gibt es leider keine Telefonverbindung nach Gaza …
Heute geht es zuerst und vor allem darum, den drei Frauen die Ausreise aus Gaza zu ermöglichen. Hier in Jerusalem im Makased-Krankenhaus werden die fünf Babys bestens versorgt. Sie schauen gesund aus und gut ernährt, wie eben Babys in diesem Alter aussehen sollten. Die Lage in Gaza ist dagegen nur noch katastrophal und traumatisch. Vor allem Babys unter einem Jahr und Kleinkinder sind am stärksten von der um sich greifenden Hungersnot betroffen. Ärzte in Gaza berichten von alarmierenden Trends von immer mehr Frühgeburten und untergewichtigen Babys: klare Indikatoren von schwerer Unterernährung, verschärft durch Stress, Angst und Erschöpfung. Und es gibt schlicht kaum Nahrungsergänzungsmittel für schwangere oder stillende Frauen.
Laut einem aktuellen UN-Bericht vom 17. Juli sind etwa 155.000 schwangere und stillende Frauen von erheblichen gesundheitlichen Problemen betroffen, weil sie keinen Zugang zu Betreuung vor und nach der Geburt haben. Notfallgeburten in Zelten ohne jegliche medizinische Hilfe oder mitten in der Nacht werden zur Norm. Die Statistik zeichnet ein erschütterndes Bild: 346.000 Kinder unter fünf Jahren und 160.000 schwangere oder stillende Frauen bräuchten Nahrungsergänzungsmittel, die es schlicht nicht gibt. 50.000 Kinder müssten wegen akuter Unterernährung behandelt werden. 17.000 schwangere Frauen sind inzwischen in der Phase extremer Unterernährung (Phase vier von fünf auf der IPC-Skala), 11.000 sogar in der Phase von katastrophaler Unterernährung (IPC-Phase fünf).
Helga Baumgarten ist emeritierte Professorin für Politikwissenschaften an der Universität Birzeit nördlich von Ramallah im Westjordanland und Autorin mehrerer Standardwerke zum Nahostkonflikt. Dies ist ihr vierter Beitrag in der Reihe »Brief aus Jerusalem«. Brief eins erschien in der jungen Welt vom 29./30. Juni, die Folgebriefe in den jW-Ausgaben vom 8. und 13./14. Juli.
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