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Aus: Ausgabe vom 29.07.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Mutmaßungen über Charly

Der Schauspieler Charly Hübner hat neun Thesen zu Uwe Johnson verfasst
Von Gerd Schumann
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»Für mich ist Ostdeutschland eine Ansammlung von Erfahrungen und Einsichten, die aufgeben zu müssen mir sehr leid tat« – Uwe Johnson

Charly Hübner, geboren 1972 in Neustrelitz, 1993 Student an der Schauspielschule Ernst Busch in Berlin, gehört seit der Jahrtausendwende zu den profilierten, kantigen, ausdrucksstarken Schauspielern dieses Landes. Zudem widmete er sich dem Leben in der ostdeutschen Provinz als Dokumentarfilmer über die antifaschistische Band Feine Sahne Fischfilet (»Wildes Herz«) und schrieb über Lemmy Kilmisters »Motörhead«. Heute lebt er in Hamburg-Altona, wo auch das Buch »›Wenn du wüsstest, was ich weiß …‹« über seinen Lieblingsschriftsteller Uwe Johnson entstanden ist.

»Der Autor meines Lebens« sei dieser, bekennt Hübner im Untertitel und begründet es direkt zu Beginn seines Textes, im ersten von neun »Versuche(n) zu Uwe Johnson«: In einem Gespräch mit zwei Autoren, die er nicht weiter benennt, hört er sich sagen, dass Johnson »eh der größte deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« sei. Das belegt er anschaulich, ein »kleiner Jubeltext«, so Hübner.

Erfahrungen und Einsichten

Indem er indes über Johnson (1934–1984) reflektiert, erzählt er zugleich aus seiner eigenen Biographie und stellt – auch anhand anderer Autoren, die über Johnson geschrieben haben – fest, dass man dabei »immer ein bisschen mehr kennen (lernt) als Uwe Johnson«. Das liege »wahrscheinlich in der Natur der Sache, und das wird mit diesem Büchlein hier nicht anders sein«. Nicht anders als bei anderen ist, dass auch seine Leserinnen und Leser mehr über Hübners Biographie erfahren.

In der Natur der Sache liegt zudem, dass die sich nach der Lektüre noch einmal um Johnsons Werk bemühen werden oder es überhaupt zum ersten Mal in die Hand nehmen. Etwa die vierteiligen, 1.600 Seiten umfassenden »Jahrestage« (1970–1983), oder seinen noch in der DDR geschrieben, aber nach der Flucht nur im Westen verlegten Erstling »Mutmaßungen über Jakob« von 1959. Oder vielleicht sogar seine DDR-Übersetzung von Herman Melvilles »Israel Potter«, erschienen 1960 bei Dieterich in Leipzig. Dass es dem »Timewriter« Johnson, als den ihn Hübner einordnet, gelingt, Geschichten und Geschichte, die Zeit von Faschismus und Krieg und die Befreiung durch die Rote Armee und die Briten, sein Leben in der DDR und danach in eigenem Stil und in ihrer Verschachtelung verblüffend-verwirrender Dramatik einzufangen, arbeitet Hübner blendend auch mit vielen Zitaten aus Johnsons Romanen heraus.

Aufgabe erfüllt, kann man da sagen, dem Autor gelingt es, neues Interesse an dem mittlerweile arg vernachlässigten Schriftsteller zu wecken. Verlegt wurde Johnson im Suhrkamp-Verlag, der sich in Person seines Lektors und Verlegers (seit Peter Suhrkamps Tod 1959) Siegfried Unseld um den innerlich zerrissenen, instabilen und mit Alkohol seine Balance suchenden Johnson intensiv kümmerte. Hübner deutet dessen Befindlichkeit und sein Leben in zwei kontroversen Systemen durchaus an – es ist der Stoff, aus dem sich Johnsons Werk speist.

Schwer fällt es Hübner allerdings, den Zweifeln Johnsons am eigenen Handeln und der Arbeit, die in eine mehrjährige Schreibblockade mündeten, auf die Spur zu kommen. Für den in der DDR sozialisierten Schauspieler spielen die Gegensätze, die sich zwischen Johnson und der DDR-Verfasstheit auftun, dessen Schwierigkeiten mit »dem System«, die Hauptrolle. Ob er damit richtig liegt, sei dahingestellt und wird These bleiben. Dass sich Johnson allerdings zwischen Vergangenheit und Gegenwart zerrieb, legen Leben und Schaffen nach dem Fortgang aus der DDR nahe. Dem nachzugehen wäre ein interessanterer Ansatz als die Reduktion auf den erzwungenen »Umgang mit Meinungssetzungen, Verboten, Ideologisierungen und Ängsten« von Kindheit an, wie Hübner meint: zunächst im Faschismus, dann im deutschen Osten nach 1945 und der jungen DDR in den 1950ern.

Johnsons Heimat, ihre erlebte Wirklichkeit und deren Vorgeschichte begleiteten den Schriftsteller bis zu seinem Tod 1984 im englischen Sheerness. »Für mich ist Ostdeutschland eine Ansammlung von Erfahrungen und Einsichten, die aufgeben zu müssen mir sehr leid tat«, meinte Johnson 1961 in einem Gespräch. Und der Springer-Journalist Alan Posener wertete noch 2011, in »Mutmaßungen über Jakob« erscheine die DDR »allen Problemen und Phrasen zum Trotz als die moralisch bessere Gesellschaft«. Das mag zutreffen oder nicht, zu denken gibt es allemal, und in den neuen Westen passt es keinesfalls.

Jedenfalls ähnelten sich einst »die Ansichten der Generationsgenossen Johnson und (Vater) Hübner. Doch anders als Uwe Johnson, der aufgrund seiner Erfahrungen mit der DDR 1959 in den Westen ging, blieb mein Vater und hielt an seinem Glauben, an seiner Hoffnung fest«, schreibt Sohn Hübner.

Seelischer Notstand

Hübner junior stieß erst als 19jähriger auf Johnsons Werk. Sein Bruch mit dem sozialistisch engagierten Elternhaus steht in direktem Zusammenhang mit dem Untergang der DDR, »den irgendwer damals als Wende getauft hatte, was für viele Menschen dann aber weniger eine Wende wurde als vielmehr ein Ende, dem ein Anfang folgte«, konstatiert Hübner. Befindlich noch im »pubertären Aufbruch«, wie er es selbst nennt, niemals in der Situation, »dem Vergangenen nachzutrauern«, ist es für ihn im Gegensatz zu Johnson in den 1950ern relativ einfach, gegen die Elterngeneration eine Haltung für das kapitalistische, bürgerlich-demokratische Gesellschaftssystem und dessen Freiheiten einzunehmen.

Sein Abgang aus dem Elternhaus geht mit einem Streit über das gesellschaftliche System der DDR einher. Dessen Niedergang ist mit teils aggressiven Auswüchsen verbunden, denen sich Hübner ausgesetzt sieht und die ihn bis ins Innerste treffen: Zunächst die bittere Erfahrung, als seine Familienangehörigen von einer Freundin als »rote Socken« beschimpft werden. Dann die Folgen seines harmlosen Halbstarkenwiderstands in einer Clique Gleichaltriger, die sich provokant »The Lost Boys« nennen, sich an westlichen Klamotten und Musiken orientieren und damit ungerechterweise anecken. Man droht ihm seitens »SED, FDJ, Stasi«. Hübner schlussfolgert: Die Weltanschauung seiner Eltern hat abgewirtschaftet.

Der Vater, »seit seiner späten Jugend überzeugt davon, dass die Analysen von Marx und Engels (…) eine harmonischere und sozialere Gesellschaftsidee in sich trugen als der (…) Kapitalismus«, habe »mit fast sechzig Lebensjahren erkennen und akzeptieren« müssen, »dass die Idee in der Praxis gescheitert war«. Seiner Mutter ging es in gewisser Weise ähnlich, beide »befanden sich also in einem seelischen Notstand«. Und genau »in diese klaffende Verzweiflung polterte nun ich, ihr laut jubelnder Teeniesohn«.

Aber 1989 ist nicht 1968, und nicht immer ist es so, dass die junge Generation auf Dauer recht haben muss. Gerade angesichts aller heutigen Kriege und Krisen wäre es durchaus reizvoll, die aktuellen zugespitzten, ja verfahrenen weltpolitischen Lagen vor dem Hintergrund des verlorengegangenen Alternativsystems zu hinterfragen.

Charly Hübner: »Wenn du wüsstest, was ich weiß …« Der Autor meines Lebens. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024, 125 Seiten, 20 Euro

»Jahrestage«, »Mutmaßungen über Jakob« und andere Werke Johnsons sind antiquarisch und im Buchhandel erhältlich. Die auf 22 Bände in 43 Teilbänden angelegte Werkausgabe erscheint im Suhrkamp-Verlag. »Jahrestage« wurde von Margarete von Trotta verfilmt.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (28. Juli 2024 um 23:40 Uhr)
    Da schrieb doch einer: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.« Wenn man die Welt verändern will und man versucht, einen Brocken zur Seite zu räumen, kann der schon mal über einen Fuß oder eine Hand rollen (es kann auch der/die eigene sein). Manche Experimente sind nicht wiederhol- bzw. reproduzierbar. Meinen laienhaften ME-Kenntnissen nach haben M&E keine allgemeine, abstrakte Gesellschaftsidee (»Plan«) entwickelt, sondern konkrete, zeitbedingte Untersuchungen durchgeführt und den Herrschenden, hinter deren Rücken sich die gesellschaftlich-ökonomischen Gesetze vollziehen, selbige vor Augen geführt. Dabei ist wieder einmal etwas aus Pandoras Büchse entwichen, das auch die Frauen Baerbock und Faeser nicht zurückstopfen können. Soweit das Wort zum Montag vom Fortschrittspessimisten.

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