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Aus: Ausgabe vom 25.07.2024, Seite 10 / Feuilleton
Philosophie

Rückkehr auf Augenhöhe

Die Philosophin Maria-Sibylla Lotter hinterfragt unser Verständnis von Rache
Von Marc Püschel
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Die Rache ist sein: John Wick (Keanu Reeves)

Rache ist allgegenwärtig, besonders in der Kunst. Von Shakespeares »Hamlet« bis zu Quentin Tarantinos »Kill Bill« sind es oft Motive der Vergeltung, die gute Erzählungen in Gang bringen. Vor allem in der Gegenwart ist der einsame Rächer eine der populärsten stereotypen Figuren. Auffallend oft wird er positiv dargestellt. Wenn etwa Keanu Reeves als ehemaliger Profikiller John Wick einen Rachefeldzug startet, so ist trotz der Leichen, die seinen Weg pflastern, klar, wem die Sympathien des Kinopublikums gehören sollen. Dem offenen Umgang mit Rache in Literatur und Filmen steht eine bemerkenswerte einhellige Verurteilung im wirklichen Leben gegenüber. Diese Diskrepanz ist für Maria-Sibylla Lotter ein Grund, sich näher mit dem Phänomen auseinanderzusetzen.

Die an der Ruhr-Universität Bochum lehrende Philosophin konstatiert in ihrem Buch »Schuld und Respekt« zunächst, dass eine Entschuldigung als uneingeschränkt gut, Rache dagegen als etwas rein Negatives gilt. Doch haben beide, so die provokante These von Lotter, eine entscheidende Gemeinsamkeit. Denn sowohl die Entschuldigung als auch die Rache zielen auf die »Wiederherstellung einer Beziehung unter Gleichen durch Rücknahme oder Wiedergutmachung einer empfundenen Missachtung«.

Nicht mehr grüßen

Es mag der Verdacht aufkommen, hier werde die zivilisatorisch scheinbar überwundene Rache rehabilitiert, womöglich gar Selbstjustiz gerechtfertigt. Lotter widerspricht nachdrücklich: »Mein Ziel ist es nicht etwa, blutige Racheakte moralisch zu rechtfertigen, sondern zu zeigen, dass ihre Motive und ihre Logik uns nicht so fremd sind, wie oft angenommen wird.« Nicht die vorschnelle moralische Verurteilung, sondern nur ein nüchternes Verständnis von Rache führe zu einem angemessenen Umgang mit ihr. Denn wenn »retributive Wünsche im Alltagsleben nicht zugelassen, sondern verdrängt werden, können sie auch nicht am Maß der Angemessenheit gemessen, gezähmt und kultiviert werden«.

Für Lotter sind Rachegelüste eine Reaktion auf die »gefühlte Verweigerung von Anerkennung«. Das kann mitunter recht harmlose Folgen haben. Schließlich sind auch alltägliche Zurechtweisungen – etwa wenn wir einen Kollegen nicht mehr grüßen, weil er über uns gelästert hat – bereits eine Form der Rache. Sie kann allerdings auch schnell zerstörerisch werden. Besonders bei Körperverletzungen oder Todesfällen werden von den Opfern oder Hinterbliebenen auch Gesten des Respekts erwartet und nicht nur einklagbare Entschädigungszahlungen. Dies zu leisten, falle in den Bereich der »restaurativen Verantwortung«, die Lotter von der strafrechtlichen Schuld abgrenzt. Als positives Beispiel hebt sie die japanische Kultur hervor, in der Firmenchefs sich nach Unglücksfällen auch persönlich bei den Opfern entschuldigen, unabhängig davon, ob sie haftbar gemacht werden.

Strenge Regel

Das Ausbleiben solcher Gesten könne den Wunsch nach Racheakten verstärken. Diese seien, so das gängige Narrativ, prinzipiell irrational und träten nur noch in »primitiven« Gesellschaften auf. »Die Erzählung von der kulturellen Fremdheit der Rache«, wirft dagegen Lotter ein, »vereinfacht nicht nur die Funktionen und Legitimationsgründe der Rache zu stark, sondern verdeckt auch, was Menschen in modernen westlichen Gesellschaften mit anderen Kulturen teilen«. Sie fordert, Rache nicht bloß als isolierte subjektive Tat, sondern in ihrer konkreten Einbettung in gesellschaftliche Sitten und Praktiken zu untersuchen. Gestützt auf ethnologische Forschungen weist sie darauf hin, dass gerade in angeblich primitiven Gesellschaften selbst die Rache zwischen verschiedenen Clans nach strengen Regeln abläuft.

Demgegenüber ist in den westlichen Staaten Vergeltung dem Staat vorbehalten. Das moderne Strafrecht, dessen Errungenschaften Lotter wohlbewusst sind, hat jedoch eine Kehrseite. Vor Gericht spielen die Opfer nur noch als Zeugen eine Rolle. Der Staat nimmt sie als allgemeine Rechtssubjekte, aber nicht in ihrer je individuellen Betroffenheit wahr. Zwar können Täter bestraft und Entschädigungen gezahlt werden, doch eine Zurücknahme der Missachtung des Opfers durch Entschuldigungen oder Gesten des Respekts findet nicht statt. Rachephantasien sind eine mögliche Folge. Die scheinbar überwundenen Rachedynamiken werden also gerade durch formalisierte Strafverfahren wieder befeuert – und nicht immer finden sie ein so harmloses Ventil wie in der filmischen Verklärung.

Weniger aufschlussreich ist der zweite Teil des Buches, der sich dem Themenkomplex der politischen Entschuldigung widmet. Lotter konstatiert ein Überhandnehmen von öffentlichen Schuldbekenntnissen seit den 1990er Jahren, welche die Frage aufwerfen, ob man sich repräsentativ entschuldigen kann, etwa für die Taten vergangener Generationen. Eine »Kollektivschuld« im Sinne moralischer oder strafrechtlicher Schuld gebe es nicht, so Lotter, dafür jedoch eine »moralische Haftung«, eine »moralische Verpflichtung zur Wiedergutmachung«. Gleichwohl bleiben die Fragen, ab wann solche Haftung geboten ist und wer genau sie zu übernehmen hat, in einer Grauzone, und auch Lotter trägt wenig dazu bei, diese auszuleuchten.

Nüchtern erörtert

Dasselbe gilt für das Problem der Ernsthaftigkeit politischer Entschuldigungen. Lotter nennt zwar Beispiele, etwa Willy Brandts berühmten Kniefall von Warschau, doch allgemeine Kriterien für die Ernsthaftigkeit von Entschuldigungen vermag sie nicht zu geben – und will es auch gar nicht: »Diejenigen, die ihre Standardisierung und jährliche Wiederholung fordern, verwechseln sie mit einer magischen Technik. Politische Entschuldigungen können nicht standardisiert werden.«

Die Probleme um das konkrete Aushandeln von Schuld und ihrer Bewältigung bleiben also bestehen. Lotter leistet immerhin einen wertvollen Beitrag dabei, überhaupt ein angemessenes Verständnis dieser Probleme zu entwickeln. Besonders mit ihrer Auffassung von Rache mag sie sich zwischen alle Stühle der öffentlichen Debatte setzen. Aber Philosophie ist immer dann am besten, wenn sie als selbstverständlich geltende Vorstellungen erneut überdenkt. »Schuld und Respekt« ist ein Paradebeispiel, wie politisch kontroverse Begriffe nüchtern und differenziert erörtert werden können.

Maria-Sibylla Lotter: Schuld und Respekt. Über die Praxis von Vergeltung und Versöhnung. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024, 191 Seiten, 21 Euro

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