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Aus: Ausgabe vom 30.08.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Das Floß der Verdammten

Hingehen, wo ihr Reichtum ist

Nach Jahren produktiven Kampfs ist »Das Floß der Verdammten« als DVD veröffentlicht. Hannes Zerbe lädt zur Aufführung beim Release in die jW-Maigalerie
Von Andreas Hüllinghorst
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Théodore Géricault: Le Radeau de la Méduse, Öl auf Leinwand, 1819, 491 × 716 cm

Die Idee kam aus der Redaktion des Kulturmagazins Melodie & Rhythmus. Die hatte 2018 die Ereignisse um die Uraufführung von Hans Werner Henzes »Das Floß der Medusa« vom Dezember 1968 in Erinnerung gebracht. Damals wie heute ein typischer Streit um die Deutungshoheit eines Verbrechens: Der Vietnamkrieg tobte, weshalb Henzes Oratorium mit dem Rhythmus des Protestrufs »Ho, Ho, Ho Chi Minh« enden sollte. Er nahm also für Vietnam Partei und nicht für die USA, die dort mit 568.000 Soldaten letztlich vergebens wüteten. Hinzu kam die Ermordung Che Guevaras 1967, weshalb das »Oratorio vulgare e militare« (wie das Werk im Original heißt) dem kubanischen Revolutionär gewidmet ist. All das passte weder dem Auftraggeber NDR noch dem Hamburger Bürgertum, das seine reine Musikästhetik nicht durch politische Themen verunreinigt hören wollte. Am Tag der Aufführung brachten Studierende ein Che-Guevara-Plakat auf die Bühne, der Programmdirektor zerriss es, der Berliner Chor weigerte sich, vor einer roten Fahne zu singen. Die Polizei kümmerte sich auf ihre Art um die Studierenden.

Erst 1971 kam die Komposition in Wien zur Aufführung. Was im Hintergrund der künstlerischen Beschäftigung blieb, war das hervorragende Libretto von Ernst Schnabel. Aus diesem Text eine eigenständige und für die heutige Zeit passende Komposition zu machen, wurden Ende 2018 der Jazzer und Komponist Hannes Zerbe und der Schauspieler Rolf Becker beauftragt. Sie sollten für die Künstler-Konferenz des Magazins Melodie & Rhythmus, das gerade mit einem »Manifest für Gegenkultur« den linken Kunstbetrieb aufmischte, ein neues Musikstück zustande bringen und uraufführen. Ein großer Erfolg – atemberaubende Ausdruckskraft von Musik und Rezitation, unvergesslich für alle, die dabei waren.

Verdammte dieser Erde

Das Zerbe-Becker-Stück trägt nicht denselben Titel wie das Henze-Schnabel-Oratorium, es bezieht sich auf die Menschen aus Afrika, denen die EU alles nimmt, weshalb sie dort hingehen wollen, wo ihr Reichtum ist, und im Mittelmeer sterben. Die mit Abermilliarden Euro hochgerüstete Grenzschutzagentur Frontex wehrt Boote mit Flüchtenden – Tausende »Flöße der Medusa« – ab. Fast 30.000 Menschen, die in Europa leben wollten, haben in den vergangenen zehn Jahren den Tod im Mittelmeer gefunden. Das Musikstück heißt darum »Floß der Verdammten«. Es steht in der Tradition des Floßes der französischen Fregatte »Méduse« aus dem Jahr 1816 und beruft sich auf die »Internationale«, den Text aus der Zeit der Pariser Kommune, auf den Aufruf an alle Kräfte, dem Kapitalismus ein Ende zu bereiten.

Gewiss auch wurde der Titel gewählt, um die Rechte der Hans-Werner-Henze-Gesellschaft nicht zu verletzen. Es dauerte ein paar Jahre, bis man sich einigte. Besonders dank des Engagements von Arne Segler von Schott Music kam es zu der Genehmigung, aus der Filmaufnahme der Uraufführung des Stücks eine DVD zu machen.

Die Traditionslinie

»Das Floß der Verdammten« hat seinen Ursprung im Unglück der französischen Fregatte »Méduse« 1816. Ihm folgt drei Jahre später das Gemälde »Le Radeau de la Méduse« von Théodore Géricault. Im Entscheidungsjahr des Vietnamkrieges, 1968, bringen Hans Werner Henze und Ernst Schnabel das Oratorium »Das Floß der Medusa« auf die Musikbühne. Das 2015 entstandene Gemälde »Charons Boote im Mittelmeer« von Ronald Paris führt die Tradition ins 21. Jahrhundert fort. Die Gemälde und das Oratorium sind Abbilder und Gegenbilder der herrschaftlichen Gewalt, von ihr geprägt und doch gegen sie, einer eigentümlichen Gewalt, die von einer im Untergang befindlichen Klasse ausgeht.

1816, die Revolution in Frankreich war vorbei, Napoleon von der »Heiligen Allianz« besiegt, der Bourbonenkönig Louis XVIII. installiert. Der Feudalstaat jedoch lag im Sterben. Die aufs Gleis der Geschichte gebrachte bürgerliche Gesellschaft hatte die ökonomische Macht, der Überbau faulte. So war auch die Fahrt der Fregatte »Méduse« ein vom Adel stümperhaft durchgeführtes Unternehmen, das mit dem Tod von 150 Soldaten, Seeleuten und Sklaven endete, die entweder bei dem Schiffsunglück oder auf dem Rettungsfloß umkamen.

1818 interessierte sich der junge Maler Théodore Géricault für das Unglück. Er sprach mit einem Überlebenden der Floßbesatzung, studierte aufs genaueste Sterbende und Meereswellen, ließ sich sogar das Floß nachbauen. Bei allem Realismus, auf die Leinwand kam ein ideeller Moment: der der Hoffnung auf Rettung und des Nichtaufgebens. Mit der Gewalt von sieben Metern Breite und fünf Metern Höhe brach das Gemälde in die Welt des Bourbonenstaates ein. Es war bald das Entsetzen der Ausstellung und damit ihre Attraktion.

150 Jahre später, 1968, dann die Musik von Hans Werner Henze. Und noch ein mal fast 50 Jahre später, kommt von Ronald Paris das Gemälde »Charons Boote im Mittelmeer« in die Redaktionsräume der Tageszeitung junge Welt. Der 2021 gestorbene große Maler der DDR spitzt die Zeit, in der wir heute leben, zu. Jeder der Flüchtenden ist bei sich. Die Mutter kümmert sich nicht um ihr Kind, das, Sinnbild der Zukunft, möglicherweise nicht mehr lebt. Kein Funken Hoffnung. »So«, das ist die von Paris unsichtbar hineingemalte Erkenntnis des Betrachters, »kann es nicht weitergehen. Es muss Veränderung her!«

»jW geht Jazz«: Vorstellung – »Das Floß der Verdammten«. Mit: Rolf Becker, Jürgen Kupke, Gebhard Ullmann, Hannes Zerbe, Christian Marien, Dienstag, 3. September, Maigalerie der jungen Welt, Beginn: 19.30 Uhr, Einlass ab 18.30 Uhr, Eintritt: 10 Euro (ermäßigt: 5 Euro). Um Anmeldung wird gebeten: 0 30/53 63 55-54 oder maigalerie@jungewelt.de

Die DVD ist ab sofort für 12, 90 Euro, im jW-Shop verfügbar: https://www.jungewelt-shop.de/DVD-Das-Floss-der-Verdammten

Hintergrund: Neues schaffen

Fortschrittliche Kräfte besitzen aus Geschichte und Gegenwart riesige Potentiale, die es zu entdecken und anzuwenden gilt im Kampf für eine bessere Zukunft. Da Hans Werner Henzes und Ernst Schnabels revolutionäres Werk »Floß der Medusa« als zu aufwendig galt, hat der Verlag 8. Mai (in dem junge Welt und M&R erscheinen), den Komponisten Hannes Zerbe beauftragt, ein völlig neues Werk zu schaffen, und den Schauspieler Rolf Becker gebeten, das ursprüngliche Schnabel-Libretto auf dieser Grundlage neu zusammenzustellen. Beide haben das neue Werk (unterstützt von einem hervorragenden Ensemble) zum Abschluss und Höhepunkt der M&R-Künstlerkonferenz von 2019 mitreißend vorgetragen.

Die Darbietung wurde vorsorglich aufgenommen, wofür der Filmemacher Paul Stutenbäumer und sein Kollektiv gewonnen werden konnte. Allerdings dauerte es weitere fünf Jahre, bis eine jetzt erhältliche DVD dieses historische Ereignis für jeden nacherlebbar macht. Dafür hat vor allem Andreas Hüllinghorst vom Verlag 8. Mai gesorgt und in den vergangenen Monaten viele Gespräche mit Rechteinhabern, Musikverlagen wie Stiftungen geführt und alle rechtlichen Fragen geklärt. Kreiert wurden Booklet und DVD vom jW-Chefgestalter Michael Sommer. Dieser kreative Produktionszyklus wird am kommenden Dienstag zu einem vorläufigen Abschluss kommen: Das Werk wird dann von Hannes Zerbe (mit Ensemble) und Rolf Becker zum dritten Mal live aufgeführt. Noch gibt es Karten.

Damit sind noch lange nicht alle Beteiligten an dieser Erfolgsgeschichte genannt. Sie erinnert daran, wie notwendig ein Neustart der Kulturzeitschrift Melodie & Rhythmus ist. Damals war es eine Idee der M&R-Chefredakteurin Susann Witt-Stahl, die den Stein ins Rollen brachte. Wir brauchen wieder eine Zeitschrift, die aktiv daran mitwirkt, Historisches und Gegenwärtiges aus linker Kultur verfügbar zu machen. Die Menschen aus der Arbeitswelt, aus Kunst und Kultur zusammenführt, um Neues zu schaffen. (dk)

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

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