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Aus: Ausgabe vom 16.09.2024, Seite 15 / Politisches Buch
Palästina-Konflikt

Alles bleibt so

Essentialistischer Tunnelblick: Bei Joseph Croitoru wird sogar die israelische Politik von der Hamas bestimmt
Von Helga Baumgarten
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Freund und Feind: Vertreter von Fatah und Hamas in Gaza (10.5.2006)

Es ist das zweite Buch, das Joseph Croitoru, Historiker und Journalist, der Hamas widmet. Das erste Buch (»Hamas. Der islamische Kampf um Palästina«) erschien 2007. Das zweite Buch nun, rechtzeitig in einer Periode großen Interesses an der Hamas erschienen, gibt programmatisch zwei klare Deutungen vor: Die Hamas regiert nicht im Gazastreifen, sie beherrscht diesen. Und es ist, so der Autor, nicht Israel, das einen Krieg gegen Gaza führt, es ist vielmehr die Hamas, die Krieg gegen Israel führt.

Das Buch beginnt mit einer historischen Einleitung zum Gazastreifen. Nicht nur hier erhält der interessierte Leser keinerlei Hinweise auf die Literatur, auf die sich Croitoru stützt. Die darauf folgenden Kapitel beschäftigen sich mit der Muslimbruderschaft und der Gründung der Hamas durch Scheich Ahmed Jassin in Gaza. Im Kapitel über die Osloer Verhandlungen (»Hamas gegen PLO-Friedensbemühungen«) ebenso wie im Kapitel zur »Al-Aksa-Intifada« geht der Autor den historischen Tatsachen regelrecht aus dem Weg. Hier nur ein Beispiel: Die zweite Intifada wurde ohne jegliche Rolle der Hamas durch die Fatah Jassir Arafats begonnen. Es war nicht die Hamas, die die Fatah herausforderte. Es war vielmehr genau umgekehrt. Die Fatah attackierte die Hamas, weil sie sich nicht einbrachte. Erst als israelische Sicherheitskräfte Hunderte von Palästinensern erschossen hatten, nahm die Hamas die Selbstmordattentate aus den 90er Jahren wieder auf.

Schuldfrage geklärt

Für Croitoru ist die Hamas einzig und allein durch die Charta von 1988 bestimmt. Alles, was danach passierte, alles, was die Hamas danach veröffentlichte und unternahm, wie sie Politik betrieb – alles ist, glaubt man ihm, eine einzige Verschleierung ihrer wirklichen Ziele, nämlich die Vernichtung Israels und die Tötung von möglichst vielen Juden.

Und es geht in ähnlicher Manier weiter: 2006 ist nicht das Jahr, in dem die Hamas von den Palästinensern gewählt wurde, vielmehr ist die »Hamas an die Macht gekommen«. Der Autor kennt offensichtlich weder die wichtigen Texte von Álvaro de Soto (von 2005 bis 2007 United Nations Special Coordinator for the Middle East Peace Process) noch die Analyse in Vanity Fair zum von den USA angestifteten Fatah-Coup in Gaza 2007. Alles ist »Alleinherrschaft (der Hamas) durch Gewalt«. Das neue Grundsatzprogramm der Hamas von 2017 wird nicht als Einschnitt erkannt, sondern als »Mäßigung nach Art der Hamas« disqualifiziert.

Der »Große Marsch der Rückkehr« endet 2018 blutig wegen der Herausforderung Israels durch die Hamas, und nicht, weil die israelische Armee Hunderte Demonstranten erschießt. Die Zuspitzung der Lage in der Westbank ist ausschließlich die Schuld der Palästinenser, die Soldaten und Siedler angreifen. Mit der extremen Gewalt der Besatzung, mit Siedlerkolonialismus und ethnischer Säuberung hat dies, will uns Croitoru glauben machen, wenig zu tun. Lediglich im letzten Kapitel wird Kritik an Israels Kriegführung in Gaza geübt.

Eine Bemerkung zur angeblich kenntnislosen palästinensischen Propaganda hinsichtlich der Gefahr für den Haram Al-Sharif, also die Aksa-Moschee. Israelische Extremisten wollen dort schon seit langem den Tempel wiederaufbauen. Itamar Ben Gvir hat dies am 26. August klar und dezidiert formuliert. Natürlich will er dort eine Synagoge bauen lassen; der gesamte Haram gehört Israel, gehört den israelischen Juden. Dies ist ausführlich analysiert worden in einem wichtigen Artikel von Yoram Peri und Gabi Weimann in Haaretz, den Croitoru lesen sollte.

Croituru stellt die Hamas in essentialistischer Manier vor. Sie ist antisemitisch, mörderisch, will Israel vernichten und alle Palästinenser unter islamistische Herrschaft zwingen. Das war sie von Anfang an und das ist sie bis heute. Das verrät einen im höchsten Maße verengten Blick auf Geschichte: Alles ist so und bleibt so, wie es immer war. Es gibt keine größeren Zusammenhänge, keine Entwicklungsprozesse, keine Reaktionen auf neue historische Situationen, vor allem keine Lernprozesse. Letztlich ist Hamas an allem schuld. Selbst die israelische Politik wird ausschließlich durch Hamas bestimmt bzw. zu »Reaktionen« auf die Hamas gezwungen.

Kritik am Verlag

Die gesamte internationale Literatur zu Hamas wird nicht berücksichtigt, genau wie die relevanten Berichte der International Crisis Group, die für jeden, der zu dem Thema arbeitet, unverzichtbar sind. Diese Literatur sollte auch für Croitoru, der nie in Gaza forschte, von zentraler Bedeutung sein, da diese Autoren intensive Feldforschung vor Ort getrieben und zahlreiche Interviews geführt haben. Croitoru stützt sich immer wieder fast ausschließlich auf die Tagespresse, noch dazu oft auf Artikel, die nur auf Hebräisch vorhanden sind. Das trifft auch auf einige der von ihm ausgewerteten Bücher zu.

Hier ist auch Kritik am Verlag zu üben. Das Buch wendet sich ja an eine breitere Leserschaft und an Nichtspezialisten. Da ist es nicht akzeptabel, dass reihenweise auf Bücher oder Artikel auf Hebräisch verwiesen wird – selbst dann, wenn es eine englische Ausgabe davon gibt, wie beispielsweise von dem ausgezeichneten Buch von Shaul Mishal und Avraham Sela »The Palestinian Hamas. Vision, Violence and Coexistence«. Aus dieser über 20 Jahre alten Arbeit erfährt der Leser übrigens viel mehr über die Hamas als bei Croitoru.

Bei ihm bekommt man leider ausschließlich den beschriebenen problematischen Tunnelblick. Empfehlen möchte ich deshalb dem deutschen Leser das eben auf Deutsch erschienene Buch von Raja Shehadeh (»Was befürchtet Israel von Palästina«), ebenso wie das ebenfalls auf Deutsch verfügbare Buch von Rashid Khalidi (»Der Hundertjährige Krieg um Palästina«). Zu hoffen ist, dass die hervorragende Arbeit von Alain Gresh (»Un peuple qui ne veut pas mourir«) bald auf Deutsch erscheint, genauso wie das unverzichtbare neueste Buch der international bekannten Palästina-Spezialistin Helena Cobban (»Understanding Hamas and why that matters«).

Joseph Croitoru: Die Hamas. Herrschaft über Gaza. Krieg gegen Israel. C. H. Beck, München 2024, 223 Seiten, 18 Euro

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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

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  • Leserbrief von Niki Müller (17. September 2024 um 01:00 Uhr)
    Zu dem ausgezeichneten Verriss des Buches möchte ich gerne die Ansicht des großen südafrikanischen Freiheitskämpfers und Kommunisten und ehem. Ministers Ronnie Kasrils beifügen. Er bewertet den Vorgang vom 7. Oktober unter Berücksichtigung der Genese einer jahrzehntelangen völkerrechtswidrigen Unterdrückung und systematischen Tötung der palästinensischen Bevölkerung wie folgt: »Meine persönliche Ansicht ist, dass es auf dem Gebiet des historischen Palästina einen einzigen säkularen demokratischen Staat mit Rechten für alle geben sollte – ähnlich wie Südafrika nach der Apartheid. Die Hamas-Charta von 2017 fordert jedoch nicht die Ersetzung des israelischen Ethnostaates durch einen einzigen inklusiven Staat und akzeptiert eindeutig eine Zweistaatenlösung mit einem palästinensischen Staat entlang der Grenzen von 1967«. Und Ronnie kommt im Abschluss zum entscheidenden Resümee: »Antisemitismus ist Rassismus. Zionismus ist Rassismus. Der israelische Staat ist ein strukturell und bösartig rassistischer Staat. Wer sich gegen Rassismus stellt, muss gleichzeitig gegen Antisemitismus, Zionismus und den israelischen Staat stehen.« Nachzutragen wäre noch, dass Israel einer der engsten Unterstützer des rassistischen, mörderischen südafrikanischen Apartheidsystems war, nicht nur Verbündeter im Geiste, sondern auch der Tat. Niki Müller

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