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Aus: Ausgabe vom 20.09.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
EU-Kommission

Harte Linie, grüner Schein

Neue EU-Kommissare: Verschärfung der Flüchtlingsabwehr, Fokus auf globale Machtkämpfe, Widersprüche in Klimapolitik
Von Jörg Kronauer
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Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, mit den designierten EU-Kommissaren am Mittwoch

Neue Schwerpunkte, neuer Streit: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat am Dienstag die neuen EU-Kommissare und ihre Posten bekanntgegeben – und damit eine Reihe wichtiger Weichen für die Politik der Union in den kommenden Jahren gestellt. Zum einen lässt sich eine neue Gewichtung der großen politischen Themen erkennen; zum anderen zeichnen sich neue Konflikte ab. In einigen Fällen ist freilich ungewiss, ob die Personen, die von der Leyen als zukünftige Kommissare präsentierte, im Europaparlament nach ihren Anhörungen die erforderliche Zustimmung erhalten werden.

Dass Österreichs Finanzminister Magnus Brunner neuer EU-Innenkommissar werden und damit zugleich für Migration zuständig sein soll, das lässt eine weitere Verschärfung der EU-Flüchtlingsabwehr erwarten. Wien verfolgt eine harte Linie gegen Flüchtlinge; Bundeskanzler Karl Nehammer, der wie Brunner der ÖVP entstammt, hat sich schon im Mai öffentlich für das damals von Großbritannien propagierte – dort allerdings inzwischen gescheiterte – Ruanda-Modell ausgesprochen. Laut dem Mandatsschreiben, mit dem von der Leyen Brunners künftige Aufgaben umrissen hat, wird der ÖVP-Politiker sich nicht zuletzt mit der Entwicklung von »innovativen operativen Lösungen zur Bekämpfung irregulärer Migration« zu befassen haben. Man kann sich ausmalen, was das heißt.

Zölle und Sanktionen

Deutlich zeichnet sich in der künftigen Kommission eine stärkere Fokussierung auf die gegenwärtig eskalierenden globalen Machtkämpfe ab. Das zeigt sich nicht nur darin, dass der Posten eines Verteidigungskommissars neu geschaffen wird. Die konservative Finnin Henna Virkkunen erhält den Posten einer exekutiven Vizepräsidentin der EU-Kommission mit Zuständigkeit für die doch recht eigentümliche Trias »Sicherheit, Demokratie und Werte«. Ihr Arbeitsfeld erstreckt sich laut Mandatsschreiben von der Cybersicherheit über die Regulierung von Internetkonzernen bis zum »European Chips Act«, der den Aufbau einer eigenständigen EU-Halbleiterbranche auf Weltniveau fördern soll – in Konkurrenz nicht nur zur chinesischen, sondern auch zur US-amerikanischen Hightechindustrie. Maroš Šefčovič aus der Slowakei wird nicht bloß für Handel, sondern auch für »wirtschaftliche Sicherheit« zuständig sein; dies lässt einen stärkeren Rückgriff auf Zölle, etwa auf Einfuhren aus China, und womöglich auch einen stärkeren Griff zu Sanktionen vermuten.

Zur Fokussierung auf die globalen Machtkämpfe gehört auch, dass von der Leyen nicht mehr, wie vor fünf Jahren, den »European Green Deal« in den Mittelpunkt ihrer Planungen stellt, sondern dass dieser gegenüber der Fokussierung auf die Wettbewerbsfähigkeit der EU, ihre ökonomische Durchsetzungsfähigkeit in der weltweiten Konkurrenz also, in den Hintergrund rückt. Die neue Prioritätensetzung zeigt sich unter anderem darin, dass mit Jessika Roswall eine Politikerin der konservativen schwedischen Moderaterna Umweltkommissarin werden soll. Die Moderaterna sind die Partei von Ministerpräsident Ulf Kristersson, dem Schwedens Rat für Klimapolitik im vergangenen Jahr explizit attestierte, sein Regierungshandeln führe nicht zu der notwendigen Senkung, sondern zu einem Anstieg der CO2-Emissionen.

Konflikte programmiert

Der »Green Deal« ist weiterhin in der Kommission verankert; die spanische Sozialdemokratin Teresa Ribera, die – ebenfalls als exekutive Kommissionsvizepräsidentin – für ihn zuständig ist, muss ihre Arbeit jedoch gleichrangig der erwähnten Wettbewerbsfähigkeit widmen. Hinzu kommt, dass sich ihre Kompetenzen mit denjenigen von Stéphane Séjourné überlappen, der offiziell für »Wohlstand (!) und Industriestrategie« zuständig ist. Die Überschneidung der Kompetenzen dürfte für Konflikte sorgen, nicht nur wegen allfälliger Widersprüche zwischen einer Industriestrategie und klimapolitischen Belangen, sondern auch, weil Séjourné dem liberalen Parteienspektrum angehört. Bis Anfang des Jahres war er Europaabgeordneter und wirkte dort als Vorsitzender der liberalen »Renew«-Fraktion.

Breton macht Biege

Obendrein wird man abwarten müssen, wie sich die Zusammenarbeit zwischen Séjourné und von der Leyen gestalten wird. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte eigentlich den einstigen IT-Manager Thierry Breton als Kommissar in Brüssel halten wollen. Von der Leyen hatte Macron allerdings kurzfristig mitgeteilt, sie lehne das ab. Breton hatte daraufhin am Montag sein bisheriges Kommissarsamt niedergelegt und von der Leyen in einem Schreiben, das er auf X veröffentlichte, wütend eine »fragwürdige Amtsführung« vorgeworfen. Streit zwischen den beiden hat es immer wieder gegeben; zuletzt sorgte Breton etwa dafür, dass es von der Leyen im Frühjahr nicht gelang, den von ihr protegierten CDU-Mann Markus Pieper als EU-Mittelstandsbeauftragten in Brüssel zu installieren. Ansonsten hat sich Breton immer wieder mit den großen US-Internetkonzernen gezofft, vor allem mit X, dessen Chefetage denn auch auf von der Leyens Entscheidung, den Franzosen nicht in ihre neue Kommission zu übernehmen, mit hocherfreuten Kommentaren reagierte. Séjourné, der zuletzt in Paris als Außenminister amtierte, verfügt nicht über spezielle ökonomische Erfahrung. Ob Macron sich Bretons Entmachtung durch von der Leyen gefallen lässt oder ob da noch mit Retourkutschen zu rechnen ist – wer weiß.

Schließlich wäre da noch der Mann, den von der Leyen zum EU-Kommissar für Kohäsion und Reformen machen will – Raffaele Fitto von den Fratelli d’Italia, der Partei der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Er wäre der erste EU-Kommissar aus einer der ultrarechten Parteien Italiens. Von der Leyen bemüht sich seit annähernd zwei Jahren um eine enge Zusammenarbeit mit Meloni, der auch – vor allem unter dem Einfluss von CDU und CSU – die Europäische Volkspartei (EVP) großen Wert beimisst: Über sie soll langfristig die Kooperation mit der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) initiiert werden, um eine Rechtsverschiebung der Kommissionspolitik zu erreichen, weg von den Grünen, hin zu ultrarechten Parteien, die lange mit einem Cordon sanitaire von der Macht ferngehalten wurden. Fitto gilt als geeigneter Kandidat, um den Durchbruch zu erzielen: Er entstammt persönlich nicht dem italienischen Neofaschismus, sondern konservativen Milieus, amtierte als Minister bereits unter Silvio Berlusconi und gilt als in Brüssel bestens vernetzt und weithin akzeptiert. Ob das Europaparlament ihm nach der erforderlichen Anhörung zustimmen wird, ist ungewiss; die Entscheidung könnte sich aber als eine der für die kommenden Jahre folgenreichsten in Brüssel erweisen.

Hintergrund: Kommissar für Aufrüstung

Erstmals in ihrer Geschichte wird die EU unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einen sogenannten Verteidigungskommissar erhalten. Für den Posten benannt hat von der Leyen Andrius Kubilius, einen ehemaligen Ministerpräsidenten Litauens (1999 bis 2000, 2008 bis 2012). Kubilius wird in Zukunft für Rüstung und für Raumfahrt zuständig sein. In seine Kompetenz fallen damit unter anderem die EU-Rüstungsstrategie und das EU-Rüstungsprogramm. Der Sache nach werden Bemühungen einen Schwerpunkt bilden, die einzelnen Mitgliedstaaten zu einer engeren Rüstungskooperation zu veranlassen. In der Branche gelten die nationalen Interessen und deshalb auch die nationalen Beharrungskräfte als besonders stark. Konkret soll Kubilius gemeinsam mit der Außenbeauftragten Kaja Kallas ein Weißbuch zur Zukunft der europäischen Verteidigung vorlegen. Kallas, bislang Ministerpräsidentin Estlands, ist als antirussische Hardlinerin berüchtigt; in ihrem Heimatland hat sie sich mit harten Sozialkürzungen zugunsten der Aufrüstung unbeliebt gemacht.

Als eine der wichtigsten Aufgaben, die Kubilius zu bewältigen hat, gilt die Beschaffung neuer EU-Mittel für die Militarisierung der Union. Von der Leyen hat bereits im Juni einen Betrag von 500 Milliarden Euro in den kommenden zehn Jahren genannt und damit die Latte recht hoch gehängt. Der Sache nach können die Mittel nur aus zweierlei Quellen stammen: Entweder müssen die Mitgliedstaaten sie direkt aufbringen, oder es müssen Schulden her. Da die Mitgliedstaaten alle knapp bei Kasse sind, läuft es wohl auf Letzteres hinaus. Von der Leyen hat dafür den hübschen Begriff »Eigenmittel« in Umlauf gebracht. Das wäre in etwa dasselbe wie das »Sondervermögen«, von dem selbst der Bundesrechnungshof ätzt, es seien »Sonderschulden«. Gegen neue – um die Sache auf den Punkt zu bringen – Kriegskredite auf EU-Ebene setzt sich allerdings die Bundesrepublik zur Wehr; nicht, weil sie gegen Rüstung wäre, sondern weil sie Schulden auf EU-Ebene allgemein zu vermeiden sucht. Man darf vermuten, dass Kubilius die Nervensäge nicht zuletzt in Berlin ansetzen muss. (jk)

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