Was von Chávez bleibt
Von Frederic SchnattererWäre da nicht die Europäische Union, nur wenige sprächen in diesen Tagen von der Situation in Venezuela. Am Donnerstag verlieh das EU-Parlament den »Sacharow-Preis für geistige Freiheit« an die beiden – laut Tagesschau – »führenden Vertreter der demokratischen Kräfte in Venezuela« María Corina Machado und Edmundo González Urrutia. Sie stünden stellvertretend für alle Venezolaner innerhalb und außerhalb des Landes, die für die Wiederherstellung von Freiheit und Demokratie kämpften, erklärte Parlamentspräsidentin Roberta Metsola in Strasbourg.
Mit der Preisverleihung versucht die EU – freilich auf plumpe Weise –, die rechte venezolanische Opposition irgendwie in der Öffentlichkeit zu halten. In Venezuela selbst ist die Lage für sie festgefahren. Das trifft allerdings nicht nur auf sie, sondern auf die gesamte politische Lage zu. Und das ist nicht erst seit der Präsidentenwahl Ende Juli der Fall, aus der den amtlichen Angaben zufolge Amtsinhaber Nicolás Maduro als Sieger hervorging. Die Opposition und »westliche« Regierungen, aber auch unabhängige Beobachter und ehemalige Verbündete Maduros sprechen von Unregelmäßigkeiten.
Die Einschätzung des Wahlprozesses ist sinnbildlich für die zwei Deutungen der Situation in Venezuela. Entweder wird der gesamte Prozess, der von Hugo Chávez mit seinem Wahlsieg 1998 in Gang gesetzt wurde, als autoritär und antidemokratisch verteufelt. Oder, umgekehrt, die rechte Opposition und der US-Imperialismus werden für alle Probleme im Land verantwortlich gemacht. Dieser »Polarisierung« möchte Tobias Lambert mit seinem Buch »Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez« entgegensteuern.
Lambert fragt dabei nach den Entwicklungen in dem Land, das in der Ära Chávez international zu einem Symbol für die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Europa wurde. Er fragt nach den Potentialen des 2006 von Chávez aufgerufenen »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« und was von dem Ziel geblieben ist. Ebenso sucht er nach Ursachen für den unbestreitbaren wirtschaftlichen und sozialen Niedergang, der unter Chávez’ Nachfolger Maduro einsetzte.
Dafür holt der Autor weit aus und liefert viele Details. Um die heutige Situation zu verstehen, sei »zunächst ein Blick auf die jüngere Geschichte des ›institutionellen‹ und des ›anderen‹ Venezuelas sowie die strukturellen Grundlagen des Erdöllandes notwendig«. Bereits hier seien die Grundlagen der »Polarisierung« zu erkennen, in der »unabhängige linke Positionen« seit Jahren »zerrieben« würden. Das Kapitel über das »Venezuela vor Chávez« trägt tatsächlich zum Verständnis der institutionell-politischen Situation bei, die den Comandante hervorbrachte.
Spannende Einblicke bringen die Abschnitte, in denen Lambert die Geschichte des »anderen Venezuela« nachzeichnet – ein Begriff, der vom revolutionären Liedermacher Alí Primera geprägt wurde. Darunter versteht der Autor die Geschichte »der marginalisierten Mehrheit in den Barrios«. Denn: »Das chavistische Venezuela anhand liberaler Kategorien zu betrachten, taugte von Beginn an nur bedingt, um die politischen Veränderungen adäquat zu erfassen.« So zeigt Lambert auf, wo die Machtbasis des Chavismus lag und auch heute noch – wenn auch in vermindertem Maße – liegt.
Darin, dass der »Bolivarianismus« die untersten Schichten nicht auf eine Rolle als Helfer auf dem Weg zur Macht reduzierte, sondern sie zumindest in den ersten Jahren aktiv in die Gestaltung einer anderen Gesellschaft einbezog, lag das revolutionäre Potential des politischen Projekts. Die Analyse dieser Dynamik ist ein Schwerpunkt des Buches. Ein anderer ist der Widerstand der alten Wirtschaftseliten, der Chávez das Regieren von Beginn an schwer machte und sich in gewaltsamen Putschversuchen ausdrückte. Die Sozialpolitik der Regierung, finanziert durch den Erdölboom ab 2003, verbesserte die Lebensverhältnisse großer Teile der Bevölkerung erheblich. Von 2003 bis 2009 sank die Armutsquote offiziellen Angaben zufolge von 54 auf 24 Prozent, die extreme Armut ging von 25 auf sieben Prozent zurück.
Dann erlag Chávez 2013 seiner Krebserkrankung, und Maduro übernahm das Amt. Lambert argumentiert, dass unter dem neuen Präsidenten ein Richtungswechsel stattgefunden hat: »Mit Hinweis auf die US-Sanktionen fördert dieser heute einen unregulierten Kapitalismus aus intransparenten Privatisierungen und Investitionsanreizen.« Auf die einsetzende heftige Wirtschaftskrise (einst kamen 96 Prozent der Exporterlöse Venezuelas aus dem Verkauf von Erdöl), die »mit Worten und Zahlen kaum zu erfassen« sei, habe dessen Regierung »überwiegend autoritär« reagiert. Diese Entwicklung sei besonders dramatisch, da das unter Chávez begonnene Projekt auf eine sozial gerechte Gesellschaft und eine Vertiefung demokratischer Partizipationsmöglichkeiten ausgerichtet war.
Auffallend unterbelichtet bleibt bei Lambert allerdings die Rolle westlicher Zwangsmaßnahmen gegen Venezuela. Diese schränkten einerseits den Handlungsspielraum der Regierung erheblich ein und verleiteten diese, wie im Falle des »Anti-Blockade-Gesetzes« von 2020, Privatisierungen zu vereinfachen. Andererseits sind die Sanktionen mitverantwortlich für die dramatische Verschlechterung der Lebenslage großer Teile der Bevölkerung. Die Wahl vom Juli sieht Lambert als vorerst letztes Kapitel einer tragischen Entwicklung. Da der Wahlrat die Akten im Anschluss nicht veröffentlichte, ist eine Überprüfung des Ergebnisses unmöglich. Statt auf Transparenz setzte die Regierung auf einen repressiven Kurs gegen Kritiker im Inland. Doch auch die ultrarechte Opposition um Machado ist keine Alternative. Lambert resümiert, die venezolanische Linke werde »die vergangenen Jahre aufarbeiten und sich neu organisieren müssen«.
Tobias Lambert: Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez. Mandelbaum, Wien 2024, 238 Seiten, 23 Euro
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Leserbrief von Maria Gastro Presento aus Rohrstock (28. Oktober 2024 um 13:58 Uhr)Ergänzung zu Chávez’ Tod: Soweit ich mich richtig entsinne, wurde damals kurzzeitig von dem Verdacht berichtet, dass sein Tod bzw. seine Krankeit(en?) durch äußere »Einwirkung«, sprich Vergiftung, durch die USA als ursprüngliche Quelle der bösen Tat, verursacht wurde.
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