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Aus: Ausgabe vom 28.11.2024, Seite 16 / Sport
Fußballrealität

Folklore um nichts

Der FC Bayern, die Hymne und eine Begegnung der dritten Art
Von Felix Bartels
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Sie sind, aber sie haben sich nicht, darum werden sie erst

Am Ende des Gangs sehe ich sie. Zu spät, mich wegzuducken, das Klo halbe Strecke, die Frau vom Campingplatz fängt mich vorher ab. »Hier, ich hab was«, schreit sie, obwohl wir uns längst gegenüberstehen. Dann versenkt sie den Kopf in ihre Gürteltasche, bis zum Schlüsselbein, man könnte meinen, es sei das Zelt von Hermine Granger, und ich bin froh, dass sie mich nicht bittet, ihr zu folgen, wie Konrad Lorenz das seinerzeit von dem Zeisig berichtete, den er gesund gepflegt hatte. Ich so: »Was denn?« Sie, mir einen Zettel reichend: »Der FC Bayern!« Wieso das denn jetzt, wegen der Würste? Nein, das kanns nicht sein. Jeder mag Würste. »Kos Mo Po Li Tis Mus«, raunt sie – und hat mich. Man kann ja unrecht haben, indem man aus den falschen Gründen recht hat. Beim FC Bayern aber wird das Zauberwort zum Schlüssel.

Was im Politischen chronisch verdächtig würde, im Fußball erhält es Relevanz. Hier darf man nicht, hier muss man regressiv sein. Der Klub aus München ist kein Klub aus München, vielmehr einer der verlorenen Seelen, kein Zuhause, keine Identität. Eine Corporate Identity allenfalls, die mit »erfolgreich« erschöpfend beschrieben wäre. Man kann, glaube ich, nicht Fan des FC Bayern sein. Zum Fansein gehört die Bereitschaft zu leiden, treu zu bleiben, auch wenn es nicht leicht ist gerade, sich mit Fremden zu fühlen wie im eigenen Wohnzimmer. Dieses Sentiment wird ein Bayernanhänger nie erleben. Und weil jene Untiefe fehlt, das Leiden, ist die Fankultur des FCB so schwach ausgeprägt, die Stimmung im Stadion so lau, sind die Geschichten, die man über ihn erzählt, immer gleich Geschichte.

Das spiegelt sich auch in den Fangesängen. In Dresden wandelt man in »Ost Ost Ostdeutschland«-Choreographie horizontal über die Ränge, in Hamburg zwitschert es: »Mein letztes Geld geb ich aus für Barmbek-Uhlenhorst«, die Kölner »stonn zo dir«, die Hertha will »nur nach Hause«, die Fans der schottischen Nationalelf singen mindestens so schräg wie laut »Yes Sir, I Can Boogie«. Was singt man bei Bayern? »Forever Number one« oder »Stern des Südens«, den der eigentlich zu Besserem geborene Willy Astor verbrochen hat. Während es in anderen Hymnen ums Gefühl, die Wurzeln, die Hood geht, dreht sich im bayerischen Gesang alles darum, dass man weltbekannt sei, alle Rekorde halte und sämtliche Trophäen gewonnen habe. Sicher lässt sich das in Noten übersetzen, in Gefühle nicht. Gleich ganz auf Noten verzichtet hatte Karl-Heinz Rummenigge, als er zum Abschied von Franz Beckenbauer seine persönliche Probe jener Folklore um nichts vortrug: »Lieber Franz, ich danke Dir. / Ich danke Dir, ich danke Dir sehr. / Ich danke Dir, das fällt uns nicht schwer. / Ich danke Dir, danke Dir ganz toll. / Weiß gar nicht, was ich alles sagen soll.« Offensichtlich.

Auf dem Zettel in meiner Hand steht ein kurzer Artikel. Fangruppen der Südkurve, angeführt von »Club Nr. 12«, planen, eine neue Stadionhymne aufzunehmen und die dem FC Bayern dann kostenlos zur Verfügung zu stellen. Sie haben die Signale gehört. Endlich was Echtes, Authentisches, etwas, das sich lieben lässt. Wer kann es ihnen verdenken? Allein, jede Art »invented tradition« ist paradox, sie versucht zu erzeugen, was nur existieren kann, wenn es gerade nicht erzeugt wurde. Fankultur macht man nicht, sie entsteht.

Ich erwache aus meinen Überlegungen, die ich vermutlich laut ausgesprochen habe. Die Frau vom Campingplatz ist schon weitergezogen. Den Zettel hat sie dagelassen, vielleicht als Vorschlag, heute was dazu zu schreiben. Noch lange schaue ich ihr nach, obwohl sie gar nicht mehr zu sehen ist.

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